Androgyne Ladenmädchen

Die „Geschichte des Internationalen Films“ hat 800 Seiten und wird heute im Abaton gefeiert  ■ Von Tobias Nagl

Das Kino für eine Sache der Ladenmädchen zu halten, hat in Deutschland Tradition. Das hat weder dem Kino gutgetan, noch denen, die sich mit ihm befassen. Kaum ein anderes westliches Land hat ein derart schlechtes Gegenwartskino und eine so auf den Hund gekommene Filmpublizistik. Sie hat sich weitestgehend angepaßt ihrem Gegenstand – das sich im unmittelbaren Konsumerlebnis verbrauchende Blockbuster-Kino –, gibt Einspielergebnisse für Einsichten aus oder erschöpft sich in Ästhetizismus und Plot-Zusammenfassungen, die sich so schnell verdauen lassen müssen wie die Filme selbst.

Gelegentlich gibt es aber auch Grund zur Freude. Die rund 800 Seiten starke deutsche Übersetzung der von Geoffrey Nowell-Smith herausgegebenen Oxford History of World of Cinema, die im Herbst bei Metzler unter dem Titel Geschichte des Internationalen Films herauskam, ist ein solcher Lichtblick. Äußerst lesbar hält diese Chronik die Balance zwischen Spezialistentum und Populismus: Sie ist historisch klar strukturiert, läßt stilistische, technologische und ökonomische Perspektiven genauso zu Wort kommen wie kulturwissenschaftliche und führt in gesonderten Kapiteln die Genres genauso ein, wie sie nationale Kinematographien jenseits Hollywoods berücksichtigt. Wer sich kompakt über die Entstehung und entscheidenden Wegmarken der Nouvelle Vague informieren möchte, ist mit dem Buch an der richtigen Adresse, ebenso wie all diejenigen, die sich fragen, wie Zensurrichtlinien oder Kameralinsen das Hollywood-Kino geprägt haben. Die Geschichte des Internationalen Films kann damit als Nachschlagewerk gelten und als faszinierender, historischer Bildungsroman, der uns erzählt, warum das Kino so geworden ist, wie es heute ist.

Dieser multifunktionale Charakter rührt daher, daß jedes der zehn bis 15 Seiten langen Kapitel von Autoren verfaßt wurde, die auf den entsprechenden Gebieten zu den einschlägigen Kapazitäten innerhalb der „Film Studies“ an US-amerikanischen Unis zählen. Ihnen wurde ein Rahmen gegeben, in dem sie entspannt und aufs Wesentliche konzentriert erzählen konnten, ohne die Leser allerdings für dümmer halten zu müssen, als sie sind. Komplettiert wird jedes Kapitel durch eine umfangreiche Bibliographie.

Wenn die deutsche Ausgabe auch leider geringfügig gekürzt wurde, ist ihr Gebrauchswert doch so hoch wie der kaum einer anderen deutschsprachigen Veröffentlichung der jüngsten Zeit. Um diesen Meilenstein zu feiern, aber auch seine Impulse weiterzutragen, findet heute im Abaton eine Podiumsdiskussion statt. Über Ziele und Strategien der Filmgeschichtsschreibung sprechen Hans-Michael Bock vom privaten Filmforschungsverein „Cinegraph“, der die Übersetzungsarbeiten koordiniert hat; Susanne Weingarten, die neben ihrer Tätigkeit als Filmkritikerin beim Spiegel immer noch Zeit findet für feministische Essays über Sharon Stones Muskeln; der Kulturhistoriker Jan Hans, der unermüdlich immer wieder dafür gesorgt hat, daß an der Universität Hamburg Film auf dem Niveau anglo-amerikanischer Theoriedebatten diskutiert wird, und der Filmemacher Hans-Christoph Blumenberg.

Im Anschluß ist Donald Cammels und Nicolas Roegs manierierter Gangsterfilm Performance zu sehen, dessen Drogen-Psychedelik zwar die meisten Zuschauer heute kaltlassen würde, aber als Reflexion von Dekadenz und Glamour noch immer beeindrucken kann. Daß all dies ausgerechnet von Mick Jagger – androgyn, schön und ungeheuer sexy – verkörpert wird, ist inzwischen auch längst Filmgeschichte.

„Geschichte des internationalen Films“, Geoffrey Nowell-Smith (Hrsg.), Verlag J. B. Metzler, 1998, 808 Seiten, 78 Mark

Buchpremiere und Diskussion heute ab 20 Uhr; „Performance“ ab 21 Uhr im Abaton.