Verdrängte Unsicherheit

In der psychosozialen Versorgung ist Deutschland Provinz: Es fehlt an interkulturellen Ansätzen. Ein Gespräch über Rassismus und Abwehr in der therapeutischen Arbeit  ■ Von Edith Kresta

taz: Frau Czollek, Sie schildern in dem Buch „Suchbewegungen“ Ihren Weg durch das Labyrinth der Therapien. Sie kreiden das totale Unverständnis an für Ihre persönliche Geschichte, nämlich Nachfahre der Opfer des Holocaust zu sein. War das nie Thema?

Leah C. Czollek: Ich bin auf sehr viel Abwehr gestoßen. Mir wurde in der Therapie immer wieder vermittelt, das Thema Holocaust würde ich vor mir hertragen. Meine eigentlichen Probleme lägen woanders.

Birgit Rommelspacher: Erst jetzt fängt die psychologische und psychoanalytische Theorie an, sich mit den Folgen des Holocaust für die Nachkommen der Überlebenden und auch der Täter und Mitläufer zu beschäftigen. Es ist erstaunlich, daß eine Psychoanalyse, die den biographischen Einfluß en détail aufdröselt, das Thema, ob mein Großvater Nazi war oder SS, nicht aufgreift. Die Psychoanalytiker sind auch nicht weiter als die gesamte Gesellschaft im Verdrängen, im Abwehren.

Jede Therapie ist so gut wie ihr Therapeut. Warum wundert Sie das eigentlich?

Birgit Rommelspacher: Ein Vorstoß war doch damals schon Mitscherlich mit der „Unfähigkeit zu trauern“. Sein Ansatz ist nie weiter aufgegriffen worden. Die Psychoanalyse hat den Anspruch, auch eine kritische, reflektierende Wissenschaft zu sein. Der Analytiker muß ja in eine Lehranalyse, bevor er Therapie macht, und da müßte man doch auf die Idee kommen zu hinterfragen, was haben meine Eltern mir eigentlich mitgegeben an Ideologie, an Bildern von anderen. Was hat der Nationalsozialismus mit ihnen gemacht. Beim Thema Antisemitismus muß man der Psychoanalyse den kritischen Anspruch absprechen.

Maria del Mar Castro: Meine Erfahrung ist, daß auch bei der therapeutischen Ausbildung rassistische Bilder, die in der Gesellschaft vorhanden sind, auftauchen. Wenn Selbstkritik, Selbstreflexion in dieser Beziehung da ist, wird gesagt: Du bist zu verkopft, geh zu deinen Gefühlen.

Aber in der Therapie geht es doch um verdrängte Gefühle...

Maria del Mar Castro: Ich glaube nicht, daß Rassismus qua Defintition kein Thema ist. Die Rassismuserfahrung der Klienten wird in der Therapie meistens gar nicht thematisiert. Und auch die Beschäftigung mit Täterschaft oder Mittäterschaft bedeutet eine Verunsicherung des Therapeuten. Und diese korrespondiert nicht mit dem Gefühl der Professionalität. Professionalität bedeutet in der psychosozialen Arbeit, immer genau zu wissen, was als nächster Schritt zu tun ist. Wenn ich als Therapeut einen Klienten habe, der Jude ist oder Türke, werde ich aber verunsichert. Und diese Irritation muß ich zum Thema machen.

Was kann ein gutbürgerlicher Mittelstands-Therapeut mit einem Flüchtling aus dem Sudan überhaupt anfangen?

Maria del Mar Castro: Er muß sich zunächst einfühlen. Empathie ist die größte Herausforderung für den Therapeuten. Sie überwindet auch kulturelle Differenzen. Und wir haben hier eben bestimmte Methoden entwickelt, um mit seelischen Konflikten, mit Traumata umzugehen. Wir müssen sie aber weiterentwickeln.

Birgit Rommelspacher: Gerade bei der Psychoanalyse kommt auch die christliche Bekenntniskultur hinzu. Wenn ich meine Sünden benannt habe, dann werde ich erlöst. Insofern würde ich die Kulturgebundenheit der Psychoanalyse sehr stark sehen. Individualismus ist eine starke Komponente dabei. Nach dem Muster: Jeder muß mit seinen Problemen selber fertig werden. Ihr Ziel sind Selbstvertrauen, Selbstreflexion. Aber zum Beispiel Vertrauen in den anderen, wie kann ich Beziehungskompetenz lernen, ist überhaupt kein Lernziel. Es geht immer um Selbstorientierung. Das ist Ausdruck unseres Individualismus. Die ganze Beziehungsseite wird in der Therapie abgespalten.

Kann man von anderen Kulturen lernen?

Birgit Rommelspacher: Der Umgang mit anderen Kulturen ist für uns produktiv, weil wir dann sehen könnten, wo unsere verdrängten Seiten sind. Gerade in bezug auf Beziehungsorientierung. In der islamischen Kultur gibt es andere Modelle der Poblemlösung. Dort werden andere Personen als Mittler eingesetzt. Sie helfen das Problem zu lösen. Es kommt oft vor, daß türkische Klienten den Therapeuten zum Mittler machen wollen. Die Therapeuten nehmen das nicht an, weil sie sagen, du mußt dein Problem selber lösen. Diese Erweiterung von Problemlösungskompetenz wird nicht angenommen. Warum nicht? Es gibt sehr gute Modelle von interkultureller Therapie, beispielsweise in den USA oder England. Dort gibt es eine sehr viel längere Tradition, Forschung und auch Reflexion. Leider ist dieses Feld bei uns völlig unterentwickelt.

Gibt es in der therapeutischen Ausbildung allmählich das Bewußtsein, in einer multikulturellen Gesellschaft zu leben?

Maria del Mar Castro: Es gibt sogar einen aktiven Widerstand dagegen, sich damit auseinanderzusetzen. Es krankt an der Ausbildung für Therapeuten. Diese Ausbildungen sind wahnsinnig teuer. Es gibt viele Minderheitenangehörige, die sie anfangen und wieder abbrechen. Das ist die Ausbildung einer ganz elitären Gruppe.

Wie soll interkulturelle Kompetenz in der psychosozialen Ausbildung vermittelt werden?

Birgit Rommelspacher: Schauen, was hat in meiner Sozialisation Fremdheit bedeutet. Wie ist das Fremde definiert worden, und wie bin ich selber mit dem Machtverhältnis, das dadurch geschaffen wird, umgegangen. Und das Wissen über die Erfahrung der anderen. Insofern hat es eine Selbsterfahrungskomponente, eine Beziehungskomponente – wie gehe ich mit Macht und Ohnmacht um – und eine Wissenskomponente. Und das kann man sehr wohl in der Ausbildung anbieten. Diversity training wird das in den USA genannt. Eine Art Basisqualifikation, um mit Differenz umgehen zu können. Das müßten alle beratenden Berufe haben.

Leah C. Czollek: Und man braucht Respekt und Toleranz. Die Bereitschaft, die Fremden überhaupt zu ertragen.

Maria del Mar Castro:: Das Grunddilemma ist: 80 Prozent der auszubildenden Therapeuten kommen aus der weißen Mittelschicht, und die gehen davon aus, daß ihre Klientel genauso ist. Wir haben einen Bedarf an Therapeuten, die verschiedener kultureller Herkunft sind und den Perspektivwechsel vornehmen können. Und wir brauchen Therapeuten, die verschiedene Sprachen sprechen, denn Therapien sind nun mal sprachlastig.