„Rot-Grün hat gute Chancen“

■ Wahlforscher Richard Stöss (54) von der Freien Universität zu den Aussichten für die Abgeordnetenhauswahl nach der Wahl in Hessen: „Der Erfolg der CDU ist nicht einfach wiederholbar“

taz: Welche Signalwirkung hat die Wahl in Hessen für die Abgeordnetenhauswahl im Oktober?

Richard Stöss: Der Erfolg der CDU in Hessen ist nicht einfach wiederholbar, denn die hessische CDU ist ziemlich konservativ. Wenn sie mit so einer Unterschriftenaktion mobilisiert, muß sie nicht befürchten, daß ihr ein liberaler Flügel wegbricht. Wenn sich die CDU in Berlin auf die Unterschriftenaktion konzentriert, dann muß sie aber befürchten, daß das, was sie von rechts gewinnt, ihr links verlorengeht. Die zweite Lehre aus der Hessenwahl ist die, daß sich die SPD intensiv mit solchen Kampagnen auseinandersetzen muß. Sie muß aber auch deutlich machen, daß das nicht ihr Hauptanliegen ist. Hauptthemen der SPD sind Wirtschafts- und Sozialpolitik unter den Stichworten soziale Gerechtigkeit, Stadtentwicklung und Bildung. Dafür wird sie gewählt, und dafür ist sie kompetent.

Viel zu spüren ist davon nicht.

Ich habe den Eindruck, daß sich die Parteien noch gar keinen Kopf gemacht haben, mit welchen Schwerpunkten sie eigentlich in die Wahl gehen. Die SPD muß jetzt die Meinungsführerschaft für ihre eigenen Themen setzen. Bei der CDU gehe ich davon aus, daß sie mit einem breiteren Themenspektrum als in Hessen in den Wahlkampf gehen wird.

Was müßten die Grünen tun, um keine Stimmen zu verlieren?

Berlin ist eine Großstadt mit einem sehr starken intellektuellen Potential, da sind die Grünen sehr viel besser verankert als in einem Flächenland wie Hessen. Die Anhänger der Grünen erwarten natürlich, daß sie auf ihren Positionen beharren und sie gut vermitteln. Das ist sehr wichtig.

Wie groß sehen Sie die Gefahr, daß die SPD Einbußen hinnehmen muß?

Auch in Berlin wäre vorstellbar, daß die SPD Stimmen an die CDU verliert und das dadurch kompensiert, daß sie Stimmen von den Grünen gewinnt.

Also auch in Berlin der Trend zu den Volksparteien?

Das würde ich vorsichtig formulieren. Ich gehe davon aus, daß die Parteien von der Hessenwahl lernen. Wenn sie ihr Profil gut vermitteln, kann die Gefahr eingegrenzt werden.

Wieviel Prozent trauen Sie den rechten Parteien zu?

Wahrscheinlich werden hier nur die Republikaner kandidieren. Denen hätte ich noch vor vierzehn Tagen gute Chancen eingeräumt, über die Fünfprozenthürde zu kommen. Aber in dem Augenblick, wo die CDU solche Kampagnen wie die Unterschriftenaktion führt, gräbt sie ihnen ein Stück weit das Wasser ab.

Zu welchen Parteien wird es in Berlin die Erstwähler hinziehen?

Wir haben in einer Untersuchung vor einem halben Jahr festgestellt, daß die Generation zwischen 18 und 21 Jahren stark fremdenfeindlich und wohlstandschauvinistisch orientiert ist. Das heißt auch für Berlin, daß es die Grünen nicht mehr so leicht haben, unter dieser Gruppe Anhänger zu finden.

Welche Prognose wagen Sie für die Abgeordnetenhauswahl?

Ich kann Ihnen sagen, was ich mir wünsche: ein Ende der Großen Koalition und eine erfolgreiche Reformpolitik. Ich glaube, daß Rot-Grün gute Chancen in Berlin hat, wenn keine großen Fehler gemacht werden.Interview:

Barbara Bollwahn de Paez Casanova