Überall ist Hessen

■ Die grüne Basis darf das hessische Wahlergebnis nicht als Provinzdebakel abtun. Sie muß sich jetzt auf klare Ziele einigen

Die Strategie der CDU, mit einer kryptorassistischen Kampagne die hessischen Landtagswahlen zu gewinnen und die rot-grüne Bundesratsmehrheit zu brechen, wäre zu durchkreuzen gewesen. Schließlich ging die Wahl nicht wegen der Erfolge der CDU, sondern ob der desaströsen Verluste der hessischen Grünen verloren.

Das Ausmaß des Debakels übertraf eine Quittung für acht Jahre Verschleiß und drei Monate Dilettantismus in Bonn bei weitem. Die in die Jahre gekommene Ökopartei mußte Stimmen sowohl an die SPD als auch an die CDU abgeben. Zudem kann sie jüngere Jahrgänge kaum noch an die Urne locken, schon gar keine Erstwähler. Die hessischen Grünen sind heute die Partei der arrivierten und gebildeten 30- bis 45jährigen – schon in der Generation der 68er bewegen sie in Hessen keine größeren Gruppen mehr. Die Niederlage war zwar nicht vorherzusehen, läßt sich aber leicht erklären. Die Bilanz der vergangenen Jahre wirkt – trotz einiger sehenswerter Detailerfolge – wie eine Summe aus Skandalen, Gschaftlhuberei und glanzlosem Alltagsgeschäft. Das bewog einen Teil der Stammwählerschaft dazu, daheim zu bleiben oder SPD zu wählen, während Protestwähler diesmal der CDU den Zuschlag gaben. Die Anlässe dazu erscheinen vielfältig:

– Die grandseigneurale Milde des Justizministers von Plottnitz konnte die technokratisch verkümmerte Umweltpolitik ebensowenig übertünchen wie die ungewöhnlich hohe Anzahl auf der Strecke gebliebener grüner Politikerinnen: angefangen von der geschaßten Staatssekretärin Brigitte Sellach über die an Personalquerelen gescheiterte Iris Blaul bis zu Margarete Nimsch und ihrer bevorteilenden Matronagepolitik, die die Partei eher vertuschte denn aufklärte. Gegen diese Hypothek konnte die durchaus professionelle Ministerin Hinz nicht ankommen.

– Bei der Listenaufstellung im Oktober wurde die Partei trotz eines spürbaren Veränderungswillens von Sprecher Königs und Patriarch Fischer gedrängt, die unscheinbare und in sich zerstrittene Fraktion mit geringen Ausnahmen erneut zu nominieren. So übte ein aufgeriebenes Parteiestablishment Solidarität mit sich selbst.

– Programmatisch ist es den Grünen nicht gelungen, bei Bildung und Wissenschaft, maßgeblichen Zukunftsthemen, Kompetenz zu zeigen. Das Ausbleiben mitreißender Alternativen zum SPD-Sparkurs verstimmte junge Eltern ebenso wie die in Hessen nicht unwichtige Lehrerschaft. Wo überhaupt Ergebnisse vorlagen, wurden sie unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt.

– Der vornehmlich an professioneller Politik interessierte Parteinachwuchs hat – wie die gesamte Partei – keine Lehren aus den jüngsten Jugendstudien gezogen, wonach sich junge Leute in ihrer Masse weder für Umwelt noch für Frieden, sondern vor allem für ihre berufliche Zukunft interessieren.

– Schließlich haben törichte Äußerungen führender Politiker, etwa des neoliberalen Frankfurter Exkämmerers und Parteisprechers Koenig, zu schwarz-grünen Perspektiven linke Wähler vergrault.

– Endlich ist einzugestehen, daß sich die Grünen gegen Xenophobie als minder gefeit erweisen denn erhofft. Die nicht nur in Hessen, sondern auch in Baden-Württemberg deutlich werdenden Vorbehalte gegen das, was man für islamischen Fundamentalismus hält, geben davon beredtes Zeugnis. Eine Partei mit derlei inneren Vorbehalten muß rassistischer Demoagogie gegenüber hilflos bleiben.

– Damit fehlt den hessischen Grünen das, was sie einmal in hohem Ausmaß besaßen: die Kampagnefähigkeit, die die CDU jetzt zum Sieg geführt hat. Der Blick auf den Wiesbadener Regierungsalltag und die dortige Personalpolitik hat vergessen lassen, daß Wahlen in der Öffentlichkeit, in Konfrontation und Zuspitzung, in Protest und Konflikt gewonnen werden.

Nach acht Jahren Regierung ist es für eine kleine, von einer zu dünnen Personaldecke getragene Landespartei am Ende keine Katastrophe, sich – wie es so schön heißt – in der Opposition zu regenerieren. Ob die Hessen-Grünen jedoch diese Chance überhaupt haben und sie, so sie sie hätten, auch nutzen, erscheint indes fraglich. Von der dezimierten Fraktion, die zu einem erheblichen Teil aus den gleichen Personen besteht, die den bisherigen Stillstand zu verantworten haben, ist nur wenig zu erwarten. Somit ruht die Last der Erneuerung auf einer Patchwork-Partei, die sich schon bei dem verhängnisvollen Listenparteitag im Oktober als Ansammlung lokaler Initiativen, von Kungelrunden und karriereorientierten Seilschaften offenbarte.

Die Bundespartei freilich wäre schlecht beraten, das hessische Wahlergebnis – obwohl hausgemacht – als Provinzdebakel abzutun. Noch immer hat Hessen für die Grünen im Bund eine Vorreiterrolle gespielt. Somit wirkt das hessische Ergebnis als Menetekel. Somit ist Hessen überall, wo Grüne seit längerem mitregieren – demnächst in Nordrhein-Westfalen.

Dabei liegen die brennenden Probleme auf der Hand: Die geringe Mitgliedschaft führt zu einer überstrapazierten Personaldecke, die sich allzuoft aus angehenden Berufspolitikern anstatt aus in Beruf und politischem Leben erfahrenen Persönlichkeiten rekrutiert. Wie in Hessen, so im Bund: Die Partei als Zentrum demokratischer Diskussion, gesellschaftlicher Mobilisierung und strategischer Planung ist für diese Aufgabe weder finanziell noch personell angemessen gerüstet.

Gewichtiger als Organisationsfragen wirkt sich das Fehlen eines in Streit und Debatte entstehenden Grundsatzprogramms aus. So oder so: Gleichgültig, ob man einem radikaldemokratischen und kapitalismuskritischen oder einem eher mittelstandsfreundlichen, wertkonservativen Kurs anhängt – mindestens mittelfristig wird sich die Partei in Bund und Land auf klare Ziele einigen müssen, sofern sie ihre Willensbildung nicht den Fraktionen, das heißt den notwendig kurzatmigen Reaktionen auf Koalitionspartner oder Regierungen ausliefern will.

Wo es um eine Ethik langfristiger Wirkungen politischen Handelns geht, darf die Einsicht nicht fehlen, daß weniger bisweilen mehr ist. Genauer: daß die Beteiligung an Regierungen – welcher Art auch immer – nur ein Instrument unter vielen ist, gesellschaftliche Innovationen einzuleiten. Noch hat sich die aus „68“ und den „Neuen Sozialen Bewegungen“ herrührende eigene Physiognomie der Grünen, ihr Image als linke Protestpartei, nicht gänzlich dem politischen Alltagsbetrieb anverwandelt. An Hessen läßt sich lernen, was verlorengeht, wenn die Partei diese Tradition nicht fortentwickelt. Micha Brumlik