Verantwortlicher Politiker oder strafbarer Mörder?

■ In Frankreich berät ein Sondergericht, ob Ex-Premier Laurent Fabius und andere Spitzenpolitiker wegen der Infizierung von Kranken mit dem HIV-Virus strafrechtlich belangt werden können

Paris (taz) – Ist Laurent Fabius, der Parlamentspräsident und vierte Mann im Staate Frankreich, ein Verbrecher? Hat er als Premierminister und haben mit ihm zwei weitere sozialistische MinisterInnen 1985 wissentlich mit dem HIV-Virus verseuchte Blutkonserven im Umlauf gelassen? Haben sie die öffentliche Gesundheit aufs Spiel gesetzt – bloß um ein paar Millionen Franc zu sparen? Diese Fragen soll ab heute ein Sondergericht in Paris klären.

Hintergrund des Verfahrens ist die Aids-Infizierung bei medizinischen Behandlungen. In Frankreich wurden bis 1986 rund 4.200 Menschen mit dem HIV-Virus infiziert. Die meisten waren Bluterkranke (Hämophile), die regelmäßig Blutkonserven benötigen, andere erhielten Transfusionen bei Operationen oder Geburten.

Rund 350 dieser HIV-Infektionen, zu denen es nach Jahresbeginn 1985 kam, wären vermeidbar gewesen. Vorausgesetzt, die verantwortlichen PolitikerInnen hätten frühzeitig die Erkenntnisse und Warnungen von WissenschaftlerInnen ernst genommen und Blutspenden systematisch auf den HIV-Virus überprüft und ebenso systematisch vor der Weitergabe erhitzt.

Weltweit (auch in Frankreich) standen bislang ÄrztInnen, FunktionärInnen und Pharmaproduzenten wegen ihrer Verantwortung für die Verseuchung mit dem Aids-Virus vor Gericht. Mehrere von ihnen erhielten langjährige Gefängnisstrafen. SpitzenpolitikerInnen wie der damalige französische Premierminister Fabius, Ex-Sozialministerin Georgina Dufoix und Ex-Gesundheitsstaatssekretär Edmond Hervé allerdings mußten sich bislang nirgends für ihre Nachlässigkeit vor einem Gericht verantworten.

Die Vorgeschichte bis zu diesem Prozeß war lang. Bis 1992 schützte Ex-Staatspräsident François Mitterrand seinen einstigen Premierminister. Nach Ansicht von Opfern lagen da bereits belastende Dokumente vor.

Bis heute sind in Frankreich das Verfahren und seine Notwendigkeit strittig. Die Angeklagte Dufoix, die sich als einzige aus der Politik zurückgezogen hat, nennt sich selbst „verantwortlich, aber nicht schuldig“. Fabius will als Premierminister „nichts“ über die Verseuchungsgefahr gewußt haben und hat das im Prozeß gegen den einstigen Chef des Bluttransfusionszentrums, Garretta, auch unter Eid ausgesagt. Prozeßkritische PolitikerInnen warnen vor einer „Kriminalisierung der Politik“.

Auch auf Seiten der wenigen überlebenden Opfer ist das Verfahren umstritten. Nachdem sie jahrelang engagiert waren, um die Spitzenverantwortlichen für ihre Infizierung vor ein Gericht zu bringen, können sie dort jetzt nicht als NebenklägerInnen auftreten, weil das in den Statuten des Sondergerichtes nicht vorgesehen ist. Den Vorwurf, sie wollten „Rache statt Justiz“ und einen „großen Schuldigen für eine große Tragödie“, lassen sie nicht gelten.

Die 35jährige Sylvie Rouy, die im August 1985 bei einer Bluttransfusion nach der Geburt ihres ersten Kindes mit dem Virus infiziert wurde und die in den nächsten Tagen in den Zeugenstand treten wird, sagte gestern der Tageszeitung Libération, ihnen ginge es ausschließlich um Gerechtigkeit: „Diese Leute hatten eine Verpflichtung uns gegenüber.“ Dorothea Hahn