Kindheitsängste pur

■ Romantisches Schaudern in den Kammerspielen: E.T.A. Hoffmanns Sandmann in der Version von Goetz Loepelmann und Grischa Huber

In einem zeitgenössischen Horrorvideo Marke Kettensägemassaker wäre folgende Szene schlichter Realismus: „... die Augen – die Augen dir gestohlen. – Verdammter – Verfluchter – ihm nach – hol mir Olimpia – da hast du die Augen! – Nun sah Nathanael, wie ein Paar blutige Augen, auf dem Boden liegend, ihn anstarrten...“

Realität oder Phantasie? In der Passage aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann stellt sich der Protagonist Nathanael diese Frage nicht. Für den Studenten der Stadt G. sind seine Hirngespinste echt, die Wirklichkeit fremd. Am Sonnabend hat die Bühnenfassung der alptraumartigen Geschichte in den Kammerspielen Premiere.

„Ich begann zu lesen und geriet in den düsteren Sog“, erläutert Regisseur und Bühnenbildner Goetz Loepelmann sein Interesse. Innere Bilder habe die Lektüre heraufbeschworen. Assoziationen zu Bunuels surrealistischem Stummfilm Der andalusische Hund beispielsweise, der Ende der zwanziger Jahre mit einer Einstellung schockte, in der das Auge einer Frau mit einem Rasiermesser seziert wird.

Durch Zufall sei ihm vor drei Jahren ein Programmheft mit Passagen des Sandmann in die Hände gefallen. Zusammen mit der Schauspielerin Grischa Huber, die mit ihm schon Hoffmanns Kunstmärchen Der Goldene Topf am Stuttgarter Staatstheater inszeniert hatte, erarbeitete Loepelmann die Bühnenversion.

Mit ihrer Inszenierung des Sandmann setzen die beiden ganz auf Hoffmanns Sprache. Sie reicht, so Loepelmann, voll und ganz aus, macht das Theater für das Publikum zum „Ort magischer Bilder“. Das Bühnenbild bleibt auf das Notwendigste, Tisch und Stuhl beschränkt. Die „Projektionen des Ich“, wie Loepelmann die Wahnträume Nathanaels deutet, werden nur durch äußerst karge Effekte begleitet. Getreu am Text wurde so aus den Dialogpassagen der Erzählung mit ihren verschiedenen Ebenen (Brief, allwissende Perspektive) eine Fassung erarbeitet, in der Grischa Huber allein auftritt.

Daß sie als Frau in die Rolle des Jünglings Nathanael schlüpft, sei weder konsequentes Konzept, noch Notlösung, betont die Schauspielerin: „Die Besetzung durch eine Frau, macht es möglich, die Rolle zu hinterfragen. „Fast ein Jahrhundert vor Freud zeichnete das Nachtstück, um 1816 entstanden, das Abbild einer Kindheitsangst, die sich zur lebensbeherrschenden Zwangsvorstellung auswächst.“

Für das heutige, psychoanalytisch gefärbte Auge birgt der Stoff einiges: Kindesmißhandlung, die Angst vor Kastration, die Unfähigkeit zu einer Liebesbeziehung. Vieles habe Hoffmann vorweggenommen, was später von Freud beschrieben worden sei, glaubt Goetz Loepelmann, und genau das mache den Sandmann für uns heute so interessant.

Ute Brandenburger

Sa., 22.30 Uhr, Kammerspiele