Apokalyptischer Ton

■ Der französische Philosoph Jean Baudrillard spricht morgen in Hamburg über Simulation, Stadt und Kapitalismus

Denk' ich an Baudrillard, so denke ich an „Simulation“ – wer hätte das gedacht! Seit den späten 70er Jahren zirkuliert diese Zentralkategorie des 1929 in Reims geborenen Philosophen und Soziologen und scheint seitdem auf immer mit seinem Namen verbunden. In der Baudrillardschen Endzeitprosa erstrahlt die Welt im Zeichen total gewordener Medialität, nichts ist mehr authentisch, keine Natur nirgends, keine konkret nützliche Arbeit, kein Unbewußtes, überhaupt kein Ort der Wahrheit, nicht einmal die Gewißheit, daß das Ganze das Falsche ist. Die Sprache will auf nichts mehr verweisen, sie ist ohne echten Sinn, die Zeichen sind referenzlos und der symbolischen Ordnung unserer Kultur fehlt ihr anderes, fehlt ein Bedürfnis nach dem Fremden und Empfinden für den Verlust; statt dessen vergnügt sie sich mit allerlei billigen Exotismen: Leben aus zweiter Hand und keiner merkt's.

Die Simulation ist total, nichts bleibt unberührt, nichts bleibt ihr äußerlich, sie verweist auf kein Original, sondern nur auf sich selbst, alles ist Simulakrum. Nicht einmal die Geschichte, der Fortschritt gar, könnte sie noch orientieren. Doch so ganz auf sich selbst bezogen, in der Immanenz reiner Diesseitigkeit bzw. dem, was sich heute „Echtzeit“ nennt, so ganz ohne Ausflucht, will sich auch unter den Bedingungen totaler Simulation kein Glück, keine selbstgenügsame Ruhe einstellen.

Vielmehr sieht Baudrillard das Scheitern lange eingeübter, liebgewordener Routinen und den Zusammenbruch tradierter Gewißheiten. Seine großen Themen sind Terrorismus, Börsenkrach, Aids, der politische Umsturz im Osten, Computerviren, ökologische Krisen, „chirurgisch saubere“ Kriege a la Golfkrieg und zuletzt der Krieg im ehemaligen Jugoslawien – eine wahrhaft apokalyptische Vielfalt.

So weit, so gut, zirkuliert die Baudrillardsche Theorie der Simulation – oder vielmehr das, was man so gerne schubladenkategorial über sie zu wissen glaubt. Denn ein Befund wie: die Welt ist alles, was über den Bildschirm flimmert und darüberhinaus eine Katastrophe, muß doch eher ein wenig hausbacken und altklug erscheinen. Eher noch wie das weltflüchtige und allemal bornierte Gezeter vom akademischen Feldherrenhügel herab, viel gelehrter Lärm um fast nichts, weil wir uns entweder schon längst, vielleicht aus zynischen, vielleicht auch aus guten Gründen, vielleicht aber auch ohne Grund daran gewöhnt haben. Oder weil die ganze Simulationsrhetorik, auf den ersten Blick jedenfalls, kaum über die Kantische, gut 200 Jahre alte Unterscheidung zwischen „Ding an sich“ und „Erscheinung“ hinaus ist – die nämlich will nach wie vor in aller Schlichtheit besagen: keine Erfahrung ist unmittelbar und keine Erkenntnis absolut.

Was also motiviert Baudrillards Emphase? Seit Hegel, mehr noch mit dem späten Marx, ist es üblich geworden, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als reflexive Totalität, als Sphäre absolut selbstgenügsamer Zirkulation darzustellen, so als ob in dieser bruchlosen Immanenz einzig der Extra-Mehrwert herrscht und allenfalls der schillernde Fetischcharakter von Ware und Geld für ein wenig Abwechslung sorgt. Seitdem hat aber auch jede Kritik mit dem Zweifel zu kämpfen, ob sie nicht selbst dem zu Kritisierenden, der unbedingten Geltung des kapitalistischen Tauschprinzips nämlich, zu viel Kredit gegeben hat.

In Frankreich war es George Bataille, übrigens auch er Soziologe, der diese (affirmative) Kritik der politischen Ökonomie wohl am heftigsten attackierte. Sein Verdacht galt ihren Voraussetzungen, nämlich der Ökonomie als homogener Tauschsphäre, in der allein die sinnvolle, also mehrwertorientierte Investition Geltung hat.

Bataille konnte darin nur die Projektion bewußtseinsanaloger Strukturen entdecken, die all das in eine wohlgeordnete Innerlichkeit zwingen wollte, was viel eher heterogen und durch Verlust gezeichnet ist. In diesem Zusammenhang thematisierte er den Tod als eine dem Bewußtsein oder vergleichbaren Strukturen uneinholbare Entäußerung, als irreversiblen Totalausfall, und setzte die Kritik damit, jedweder innerlichen Gewißheit entsagend, einer unkündbaren, radikalen Offenheit aus.

Tausch, Heterogenität und Tod – in der Folge Batailles mag dies Baudrillards Lust an der Katastrophe bedingen, doch seit seinem Buch Der symbolische Tausch und der Tod ist es nach wie vor seine radikalisierte Kapitalismuskritik, die ihn zu dem mitunter sehr moralinsauren Engagement motiviert. Er mag sich zwar zu den verschiedensten Themen geäußert haben und dies mit wechselnder Betroffenheit, doch von einer Wende, etwa die vom kalten Zyniker zum neuerdings engagierten Moralisten, kann keine Rede sein. Er mag seinen apokalyptischen Ton in letzter Zeit ein wenig gemäßigt haben, doch in der Menschheitsgeschichte, das wußte schon Walter Benjamin, bildet der Ausnahmezustand das einzige Kontinuum.

Christian Schlüter

Morgen abend, 20 Uhr, spricht Baudrillard in der Literaturhaus-Reihe „Perspektiven metropolitaner Kultur“ auf Kampnagel, k6.