Selbstironische Endzeitvisionen

■ Kampnagel: Jean Baudrillard sprach über Stadt und Haß

Mit vielen neuen hübschen Substantiven sind wir am Dienstagabend nach Hause gegangen: „Einbahnstraßengeselligkeit“, „Viralität“, „Xeroxgrad der Gewalt“ und einiges mehr. Jean Baudrillard, französischer Gesellschaftstheoretiker, hatte auf Kampnagel eine Vorstellung gegeben.

Begleitet von seinem deutschen Verleger Peter Gente (Merve), sprach der Großmeister der Simulation in der Literaturhaus-Reihe Perspektiven metropolitaner Kultur zu rund sechshundert Zuhörerinnen und Zuhörern über „die Stadt und den Haß“ – so jedenfalls lautete der Titel der Veranstaltung. Der diente dem „Virtuosen des Verschwindens“ (Literaturhaus-Chefin Ursula Keller in der Vorrede) jedoch allenfalls als Aufhänger für seine verbalen Endlosschleifen über das Ende aller Werte, die totale Gleichgültigkeit der Massen, die Virtualität der Medienerfahrung, kurz: das Scheitern der Moderne. Auch in der dem Vortrag angeschlossenen „Diskussion“ fand er bei jeder Antwort auf Fragen etwa nach seinem privaten Glück oder zum Balkankonflikt schnell in seine epistemologischen Trampelpfade zurück.

Durchaus symphatisch und mit einem Akzent, der schon allein die deutschen Vokabeln dekonstruierte – „Abfall“ klang plötzlich nicht mehr bloß nach Müll, sondern schillerte wie der Untergang des Abendlandes – beschwor Baudrillard Endzeit-Szenarien. Die Städte sind Monstren der Interaktion, die autoaggressiven, sinnlosen Haß produzieren; die Realität implodiert, die Individuen werden zerrieben zwischen dem Zuviel an Information, Datenwirrwarr, Kongenialität.

Vorbei die Zeiten, da wir noch die Entfremdung des Subjekts vom Selbst bedauern konnten – dank der universellen Kommunikation sind wir nun vom Anderen entfremdet und gefangen in der endlosen Identifikation mit dem autistischen Ego. Wir wissen nicht mehr, was wir wollen, nur noch, was wir nicht wollen. Es waren andere Kulturen, die Überschuß produziert haben: Unsere jedenfalls produziert jenseits des Wertgesetzes Abfall. Ohne natürliche Feinde treibt das System der Selbstzerstörung zu oder ist bereits zerstört; wer will das noch auseinanderhalten?

Damit die Theorie Relevanz habe, müsse sie die Realität zuspitzen; damit sie nicht religiös wird, wo sie dramatisiert, muß sie ironisch sein. Derlei Bedingungen des aufgeklärten Diskurses hält Baudrillard ein, reflektiert sie und widerlegt seine Visionen dadurch glücklicherweise selbst. Denn trotz aller Totalität von „coolem“ Haß und Indifferenz läßt er sich's nicht verdrießen: Er heiratet heute. Aber vielleicht ist das auch nur eine Fiktion.

Ulrike Winkelmann