Rückschlägen zum Trotz

Die deutsche Justiz hat es nur mühsam und hauptsächlich erst unter dem Druck der linksliberalen gesellschaftlichen Stimmung der sechziger Jahre geschafft, sich von Nazitraditionen zu lösen. Wie es dazu kam und was daraus für die Zukunft folgt – erörtert in Teil IV der Serie „50 Jahre neues Deutschland“  ■ Christian Semler

Manchmal war es an der Spitze des Fortschritts, meist aber bewegte sich das Rechtssystem der Bundesrepublik im Gleichklang der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung und nahm teil an deren Fort- wie Rückschritten. Deshalb gehört es, nach fünfzig Jahren, zur bundesdeutschen Erfolgsgeschichte – mitsamt allen Fragezeichen, die sich an dessen Zukunft heften.

Die „Organe der Rechtspflege“ spiegeln heute getreulich wider, was in der Gesellschaft gedacht und empfunden wird. Kein Dünkel und Korpsgeist mehr, keine irrationalen Angstzustände vor dem Pöbel, keine mentale Distanz zum Tagwerk der parlamentarischen Demokratie. Der Unterschied zur ersten deutschen Republik, der von Weimar, ist offenkundig.

Heute gibt es keinen Kurt Tucholsky mehr, der die reaktionäre Justiz seiner Zeit mit sarkastischen Attacken überzog, dafür den Kurt-Tucholsky-Preis. Zu dessen Trägern zählt Heribert Prantl, Jurist, Radikalliberaler und Politikchef der auch in Juristenkreisen beliebten Süddeutschen Zeitung, deren Auflage die von Tucholskys Weltbühne um einiges übersteigt.

Weshalb können wir sagen, daß die Rechtsentwicklung der Bundesrepublik Teil hatte am immer noch unabgeschlossenen Projekt der politischen Zivilisierung Deutschlands? In vieler Hinsicht setzte sie die progressiven Tendenzen des Weimarer Rechtssystems fort, vor allem was die Kodifizierung beziehungsweise Rechtsprechung zum Gewebe der sozialen Beziehungen anlangt.

Aber diese Schritte zur Anpassung an eine veränderte Lebenswelt, also an den Prozeß der Verwestlichung, waren nur möglich, weil schon im Vorfeld der Bundesrepublik ein entschiedener Bruch vollzogen wurde. Unter dem Eindruck des Nazidespotismus beschlossen die GründerInnen unserer Verfassung, den Menschen- wie den Bürgerrechten unmittelbare Rechtsgeltung zu verschaffen.

Erstmalig unterlagen damit Rechtsakte und Gesetze der Nachprüfbarkeit durch ein Verfassungsgericht. Dieses grundlegend Neue strahlte auch auf die Prinzipien des Staatsaufbaus aus. Es gab den wiederhergestellten, spezifisch deutschen Institutionen des Verfassungs- und Verwaltungssystems wie zum Beispiel der föderativen Ordnung, der Selbstverwaltung und dem Recht der öffentlichen Anstalten eine neue Prägung. Die klassischen Abwehrrechte des einzelnen erweiterten sich um Schutz- und (ansatzweise) Teilhaberechte.

Der Umgang unter Privatpersonen, bis dahin Domäne des Zivilrechts, unterlag nun zumindest indirekt einer menschen- und bürgerrechtlichen Beurteilung. Von dieser Sichtweise profitierten zunächst das Arbeitsrecht, später andere Rechtsgebiete, die ursprünglich Bestandteil des klassischen, auf individuelle Rechtsansprüche von Eigentümern zugeschnittenen bürgerlichen Rechts gewesen waren. Mit dem Grundgesetz wurde ein Standard aufgerichtet, an dem sich, Rückschlägen zum Trotz, die Staatsgewalt bis heute messen lassen muß.

Aber auf welch steinigem Weg schreitet der Prozeß der Zivilisierung voran! Verfolgte man diesen Weg im Stil von Micha Brumliks Periodisierung der westdeutschen Nachkriegsgeschichte und ihrer Brüche (taz.mag vom 23. Januar), würde folgende Grobeinteilung herausspringen:

1. 1945-49. Es ist die Zeit der von den Alliierten erzwungenen Erschütterung von Rechtstheorie, Rechtspraxis und Juristenpersonal des Naziregimes. Die Formulierung des Grundgesetzes ist die wichtigste, positive Erbschaft dieser Periode.

2. 1949-65. Restauration der diskreditierten Justizeliten; Etablierung des antikommunistisch-christlichen Juristenweltbilds. Gleichzeitig werden die großen sozialen Integrationsgesetze (Lastenausgleichsgesetz, Rentenreform), die dem „Rheinischen Kapitalismus“ das Korsett des Sozialstaats einzogen, beschlossen.

3. 1966-72. Wiederkehr der verhinderten Auseinandersetzung mit der Nazijustiz; Modernisierungs- und Reformschub im Straf-, Familien- und Wirtschaftsrecht sowie der Rechtsprechung zum Persönlichkeitsrecht. Andererseits werden während dieser Jahre die Notstandsgesetze, die potentiell eine Reihe von Grundrechten einschränken, verabschiedet.

4. 1972-89. Zweite Welle des politischen Strafrechts und der justizförmigen Ausgrenzung radikaler Opposition. Versickern von Reformgesetzen. Widersprüchliche Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu den Grundrechten, allerdings mit der Haupttendenz Vertiefung, vor allem bei Schutz- und Mitspracherechten der Betroffenen gegenüber den Gefahren der Großtechnologie. Begründung des „informationellen Selbstbestimmungsrechts“ bei der Speicherung und Verwendung personenbezogener Daten

5. 1990-98. Ausdehnung des Rechtssystems der Bundesrepublik auf die DDR statt Generalüberprüfung beider Systeme. Ethnisierung des Demokratiebegriffs (kein Wahlrecht für Ausländer), Ruin des Asylgrundrechts. Gleichzeitig zunehmende Europäisierung des zivilen und öffentlichen Rechts mit der Perspektive eines supranationalen Rechtsschutzes.

Innerhalb dieser widersprüchlichen Rechtsentwicklung bilden die sechziger Jahre eindeutig die Wasserscheide. Als der Autor dieses Überblicks (Jahrgang 1938) 1961 in München das erste juristische Staatsexamen ablegte, fanden sich unter den fünf mündlichen Prüfern zwei prominente Exnazis und zwei Mitläufer. Juristen, die während der Weimarer Republik begonnen und dem Führerstaat willig gedient hatten, waren wieder in Amt und Würden. Konrad Adenauer glaubte, auf prominente Exnazis wie den Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, Hans Globke, nicht verzichten zu können.

Der wiederhergestellte Justizapparat erteilte sich Generalabsolution. Kein einziger Richter des nationalsozialistischen Volksgerichtshofs mußte sich je verantworten. In ohnmächtigem Zorn erlebten junge, demokratisch gesinnte Juristen, wie Nazirichter des Bundesgerichtshofs über Kommunisten richteten und sie (verfassungswidrig) wegen Taten verurteilten, die sie vor dem Erlaß des Verbotsurteils gegen die KPD 1956 begangen hatten. Die allgegenwärtige Angst vor den „Russen“ führte zur Kriminalisierung selbst harmlosester Kontake zur DDR: ein Antitotalitarismus ohne demokratischen Konsens.

Doch die weltpolitische Konstellation änderte sich allmählich, der Kalte Krieg nahm an Schärfe ab, die endlose Regierungszeit des Patriarchen Adenauer samt ihrer christlich- abendländischen Phraseologie neigte sich ihrem Ende zu, und eine neue Generation betrat die (Juristen)bühne. Schon in der Spiegel-Affäre, einem mit düsteren Methoden vorgetragenen Generalangriff der Regierung auf die Pressefreiheit, war die veröffentliche Juristenmeinung mehrheitlich auf der Seite der Spiegel-Journalisten.

Mit dem Auschwitzprozeß in Frankfurt kündigte sich das Ende der Vergangenheitspolitik à la Adenauer an. Das kollektive Beschweigen der Nazivergangenheit führte in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zu zahlreichen, brachial ausgetragenen Familienzerwürfnissen und wurde zu einem der Ausgangspunkte der Studentenrevolte von 1968. Mit der Selbstkritik des Bundesgerichtshofs von 1988 fanden die damaligen Kämpfer an der Justizfront eine späte Rechtfertigung.

Der in ganz Europa manifeste Wertewandel in den Beziehungen der Geschlechter, der Familie und der Sexualmoral, dramatisiert in der Kulturrevolution der sechziger Jahre, fand seinen Niederschlag in der Reform des Familien- und des Strafrechts durch die sozialliberale Koalition. Im Scheidungsrecht fiel das Verschuldens- zugunsten des Zerrüttungsprinzips; der Pönalisierung der Homosexualität wurde ein Ende bereitet.

Die Frauenbewegung eröffnete aufs neue den Kampf gegen die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs und erreichte schließlich einen (bis heute umkämpften) Kompromiß. Die Rechtsprechung verbesserte, auch in den Grundrechten, die Position der Kinder.

Der Impetus „Mehr Demokratie wagen!“ der Brandt/Scheel-Regierung 1969 kam allerdings früh bei dem Versuch zuschanden, das autoritäre Regime im geschlossenen Fabrikareal zu demokratisieren. Zur juristischen Besserung der Lage derer, die besonderen Gewaltverhältnissen unterworen waren, vor allem der Strafgefangenen, kam es erst gar nicht. Der Demokratisierungsschub brach sich an den Bastionen, die die Regierung in hysterischer Angst vor linksextremen Umtrieben, dann aber vor allem angesichts des Terrorismus der RAF errichtete.

Hatten sich die Achtundsechzigerlinken auch gründlich getäuscht, als sie die Notstandsgesetze als Präludium zur Abschaffung der Demokratie verstanden – in der Diagnose der Berufsverbote, des Aufbaus zentralisierter Überwachungsorgane und der die Rechte der Verteidigung einschränkenden Gesetze lagen sie nicht so falsch. Die revolutionären Utopisten sind heute verschwunden, der Überwachungsapparat hat sich modifiziert, Ballast abgeworfen – aber er wuchert weiter. Er hat sich – siehe Lauschangriff und Europol – sogar neue Betätigungsfelder erschlossen.

Aber die Rechtsentwicklung von der zweiten Hälfte der siebziger bis in die neunziger Jahre erschöpfte sich nicht in diesem demokratischen Backlash. Neue soziale Bewegungen mit der Anti-Atom- Bewegung als Speerspitze pflügten das weltanschauliche Terrain um. Progressive Rechtstheoretiker forderten, daß der Schutz der Umwelt ebenso Verfassungsrang haben müsse wie der Anspruch künftiger Generationen, von unzumutbaren Ökobelastungen frei zu sein.

Die Verfassungsrichter verweigerten sich diesen Vorschlägen, erweiterten aber beträchtlich Mitsprache- und Kontrollrechte unmittelbar Betroffener. Die Absicht der rot-grünen Regierung, endlich mit dem Institut der Verbandsklage ernst zu machen, ist die Frucht dieser langjährigen Debatten. Auch bei der wichtigsten Grundrechtserweiterung, dem vom Verfassungsgericht entwickelten Recht auf informationelle Selbstbestimmung, stand eine Bewegung Pate: die zum Volkszählungsboykott. Das Rechtssystem hat sich mithin als durchlässig erwiesen gegenüber erweiterten Ansprüchen auf Verantwortung und Mitsprache.

Wird die rot-grüne Regierung der demokratischen Reform von Staat und Recht wieder Schwung geben? Ein neues Staatsbürgerschaftsrecht könnte zum Leitstern einer bürgerrechtlichen Politik werden und Ausstrahlungskraft auch auf andere Rechtsgebiete entfalten. Aber derselbe Minister, der hierzu einen klugen Entwurf veröffentlichte, denkt zugleich in engen, polizeilich definierten Kategorien der Sicherheit. Den gleichen Zwiespalt konstatieren wir bei der Rechtspolitik im Rahmen der Europäischen Union. Einerseits finden wir hier enge bis nationalistische Interessenwahrnehmung, andererseits weit ausgreifende Projekte wie die Demokratisierung der Institutionen und den europäischen Grundrechtsschutzes.

Ist das Glas halb leer oder halb voll? Das Credo des italienischen Philosophen Antonio Gramsci lautete: Pessimismus der Einsicht, Optimismus des Willens.

Christian Semler, 60, Jurist, arbeitet seit Ende der achtziger Jahre als Reporter und Essayist für die taz