Viele „Judenretter“ haben bis heute geschwiegen

■ Versteckt in Berlin, überlebten mehr als 1.000 Juden den Holocaust. Die Retter waren „ganz normale Leute“. Forscher der TU Berlin versuchen deren Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren

„Möchte Ihnen eine wichtige Mitteilung machen“, heißt es in einer mit Rechtschreibfehlern gespickten Denunziation vom 12. August 1943 an die Gestapo Berlin, „wegen einer Jüdin. Ich habe nämlich seit einiger Zeit bemerkt, das sich eine Jüdische heimlich bei Leute hier im Hause verstekt und ohne Stern geht. Es ist die Jüdin Blumenfeld, die sich bei der Frau Reichert Berlin W. Passauerstrasse 38 vorn 3 Treppen heimlich verstekt. So was muss sofort unterbunden werden, schicken Sie mal gleich früh so um 7 Uhr einen Beamten und lassen dieses Weib abholen. Diese Jüdin war früher wie sie hier im Hause wohnte immer frech und hochnäsig.“ – Es sind traurige Quellen, die die Forscher des bundesweit einzigartigen Projekts „Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1945“ der TU Berlin seit knapp zwei Jahren finden – aber die Arbeit ist nötig. Denn in Sachen „Judenretter“ klafft eine Forschungslücke, wie einer der drei Historiker, Kurt Schilde, erklärt.

Erste Ergebnisse ihrer Arbeit: Nirgendwo wurden so viele Juden gerettet wie in Berlin. Mindestens 1.000 sollen es gewesen sein, aus einem einfachen Grund: In keiner anderen Stadt Deutschlands lebten bis 1933 so viele Juden: 170.000 der reichsweit etwa 500.000. Und nirgendwo gab es auch so viele „Judenretter“: mindestens 1.500 schätzen die Historiker – einige hundert Fälle dürften bis heute unbekannt sein, manche Retter werden ihre Geschichte noch immer nicht erzählt haben. Kurt Schilde sieht mehrere Gründe für ihr Schweigen: Zum einen war ihre Tat vielen selbstverständlich, nichts, wofür sie Ruhm erwarteten. Andere befürchteten den weiter vorhandenen Antisemitismus der Nachkriegszeit: Manche wollten nicht als „Judenfreund“ gelten. Schließlich herrschte in der Kriegsgeneration oft eine Front des Schweigens: Die schlimme Zeit wollten viele Opfer und Täter am liebsten vergessen. Und wer wollte es schon genau wissen, daß der Nachbar geholfen hatte, stand doch dahinter schnell die Frage: Warum habe ich nichts getan?

Denn die Retter waren „ganz normale Leute“, sie stammten aus allen Schichten. Manche halfen schlicht, weil sie nicht nein sagen konnten, erklärt Schilde. Andere handelten aus religiösen, politischen oder persönlichen Motiven: Die oder der Gerettete war früher eben der Freund, Kollege, Verlobte, Klient oder Arbeitgeber gewesen. Manche konnten sich plötzlich als Helden beweisen, andere Geld damit machen – letzteres war aber eine krasse Ausnahme.

So sind Geschichten von Mut und Solidarität zu finden – und solche von Überforderung: „Ihr Judenpack“, schrie eine Retterin einmal, „ich schmeiße euch raus!“ – was sie dann doch nicht tat. „Ganz selten“, sagt Schilde, „waren die Beziehungen zwischen Retter und Gerettetem befriedigend.“

Die Shoah-Gedenkstätte Jad Vaschem hat in Europa fast 16.000 Männer und Frauen als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt – an die 400 Deutsche sind unter ihnen, aber 5.000 Niederländer, wie Gisela Kuck von Israels Botschaft in Bonn berichtet. Das mag auch an manchen Kriterien zur Anerkennung als Retter liegen: In der Regel muß etwa die Aussage eines lebenden jüdischen Zeugen zugunsten des Retters vorliegen.

Die Wissenschaftler aus Berlin und Jad Vaschem müssen sich auf jeden Fall beeilen. Sonst können sie bald nur noch Akten lesen und Ehrungen lediglich posthum vergeben. Philipp Gessler

TU Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, Ernst-Reuter- Platz 7, 10587 Berlin, Tel. 31425467