Krimi für Fernsehflüchtlinge

■ Auch Radio Bremen hat aus gegebenem Anlaß einen alten Gruselstoff wiederentdeckt: Stevensons „Jekyll & Hyde“

Sie sind Exoten, und sie ahnen es. Sie tauschen in einer dieser Newsgroups irgendwo in den Weiten der neuen Netze fast konspirativ Informationen aus. Sie fragen: „Wer hat Perry Rhodan?“ Oder sie wollen wissen: „Wer will Kassetten oder CDs tauschen?“ Sie sind Fans, Hörspielfans. Ihr Geschlecht: überwiegend männlich. Ihre Berufe: Ingenieure, Studenten vorwiegend technischer und naturwissenschaftlicher Fächer sowie Vielfahrer.

Für diese und weitere FreundInnen der bilderlosen Abendunterhaltung stellt auch Radio Bremen ein Programm zusammen (dienstags um 22 Uhr, freitags um 23 Uhr sowie sonntags um 17 Uhr, Radio Bremen 2). Und der kleinste ARD-Sender beteiligt sich auch mit eigenen Produktionen am ARD-Hörspielprogramm, die wir fortan auf dieser Seite vorstellen werden. Die erste, von der Hörspielabteilung selbst als bemerkenswert eingestufte Produktion dieses Jahres widmet sich aus gegebenem Anlaß einem alten Gruselstoff: Robert Louis Stevensons „Jekyll & Hyde“.

Jemand spielt Bachs Tokkata und Fuge auf der Orgel. Ein Mann schreit, ein anderer röchelt und scheint sich zu verwandeln. Der Musiker ändert sein Spiel, es schert aus, wird atonaler, schriller. Eine Männerstimme, die des Anwalts Gabriel John Utterson, hebt an, beginnt zu erzählen: von seinem Freund und Mandanten Henry Jekyll und von dessen seltsamen neuen Gefährten Edward Hyde. Uttersons Schilderungen werden immer wieder durch Orgelspiel, englische Satzfetzen und Geräusche überlagert und unterbrochen.

Für die Radio-Bremen-Produktion hat Regine Ahrem aus Stevensons Roman über den Wissenschaftler, der seine Persönlichkeit mit einer Droge in Gut und Böse spaltet, eine Kurzfassung destilliert. Wie Stephen Frears in seinem wunderbaren Film „Mary Reilly“ erzählt auch Ahrem aus der Perspektive einer Randfigur. Sie allerdings bezieht sich dabei auf Stevensons Original, in dem der Anwalt Utterson seinem Freund Jekyll langsam auf die Schliche kommt. Hineinmontiert sind Ausschnitte aus der Tonspur der 1931 entstandenen Verfilmung von Rouben Mamoulian mit Fredric March in der Titelrolle.

Christiane Ohaus' routinierte Inszenierung ist kaum länger als eine halbe Stunde. Mit Hermann Lause (Utterson) und Christoph Quest (Jekyll/Hyde) in den Hauptrollen sowie den Ex-Ensemblemitgliedern der Shakespeare-Company und des Schauspielhaues, Peter Kaempfe, Renato Grünig und Fried Gärtner, in weiteren Nebenrollen wird das Stück zu einer Enthüllungsgeschichte und zu einem Kurzkrimi aus dem viktorianischen England zugleich. Trotz guter Sprecher und atmosphärischer Dichte bleibt das Hörspiel aber Etüde: Es will das Original rekonstruieren und mit den Filmzitaten noch eine Verbeugung vor Mamoulians Klassiker mitliefern, doch es zahlt dafür den Preis, der zumindest vom Hörensagen sattsam bekannten Story nichts Neues abzugewinnen. Eine gute halbe Stunde Abendunterhaltung für Fernsehflüchtlinge ist diese Produktion aber allemal. Christoph Köster

Die Ursendung von „Jekyll & Hyde“ ist am Tag der Musicalpremiere, Freitag, 19. Februar, ausnahmsweise bereits um 22.45 Uhr auf Radio Bremen 2 zu hören.