Berlinale-Anthropologie
: Nebenschauplätze

■ Die Kunstgalerie im Europa-Center oder die Cafeteria des Kaufhauses Wertheim

Streng genommen, dekretiert Babette in einem Anfall von Fundamentalismus, gebe es doch nur einen einzigen Schauplatz, die Leinwand, während der Film läuft. Zu diesem Zeitpunkt müßten alle anderen Schauplätze entvölkert sein – ihr schwebt wohl das Schulhaus vor, spotte ich, während der Unterricht läuft, geschlossene Türen, menschenleere Gänge.

Menschenleer ist diese Galerie im Europa-Center, man tritt von der Budapester her ein – später bin ich noch einmal ins Innere des Komplexes gegangen, konnte aber die Zwangsidee weder verifizieren noch falsifizieren, in diesem zweigeschossigen Ladenlokal habe einst das berühmte Schallplattengeschäft Bote & Bock residiert, wo sich unsereins in den Siebzigern mit Gustav Mahler versorgte, von Lucchino Viscontis „Tod in Venedig“ angesteckt („Mahler, das war doch die ultimative Stammheim- Musik“).

„Unsere Stars“ zeigt die provisorische Galerie im Europa- Center, von Kiddy Citny und Danielle de Picciotto, Acryl auf Leinwand sowie kleine Klappaltäre, bemalt, davor zuweilen Tonfiguren. Es ist ganz einfach, aus Filmgeschichte bildende Kunst zu machen; du bleibst technisch auf jeden Fall unterhalb der Standards, und damit ist alles erlaubt. Ein Schulheft, ungelenk vollgeschrieben mit den Titeln berühmter Filme, und du bist schon im Spiel.

Die Menschenleere teilt die Galerie zu dieser Zeit mit allen anderen; „unsere Stars“ finden nicht auf dem offiziellen Berlinale-Territorium statt, sondern knapp daneben. Die Menschenleere hat was Sakrales.

Das Bikini-Haus findet sich gleich gegenüber, und das „CineCenter“, kompliziert in drei Etagen hineingeschachtelt, brummte von Geschäftsgesprächen. (Dort ist der Schauplatz, spottet später Leroi an der Bar, der sich „Brakhage“ angeschaut hat, Porträt eines Experimentalfilmers aus den Sechzigern – dort im Bikini-Haus sei der Marketplace für das Busineß, ohne welches kein einziger Film auf die Leinwand finde.)

Ich kam durch einen engen Gang herein, rechts und links schauten französische Filmplakate auf mich hin. Vanitas! dachte ich, André Dussolier spielt unterdessen längst den Papa statt des Liebhabers. Memento mori! Die Zeit vergeht. Und wenn man erst mal in diesem Schwurbel drin ist, sieht man in den in heftige Geschäftsgebärden Verstrickten einerseits die Jungen, die hübschen Mädchen und Herrchen am Counter, die sich andauernd verzweifelt fragen, warum sie nur die Vorverhandlungen führen, wann sie endlich den Nebenschauplatz verlassen dürfen und zur Hauptsache zugelassen sind, the Real Thing drüben in der Sitzecke (so schauen Schüler dauernd auf die Uhr: Wann beginnt endlich das Leben – oder wenigstens die große Pause?).

Andererseits die alten Säcke, die schon vor Augen haben, daß dies bald nicht mehr ihre Welt ist, drohender Ruhestand. Dort hinten, der weißlockige Wuschel, ganz zerstreut vor Eifer, das ist doch der frisch verrentete Hauptabteilungsleiter Fernsehspiel dieser süddeutschen Anstalt...

Keiner Inspektion wert: der „Berlinale Shop“. Es finden sich übrigens zwei dergestalt übertitelte Lokalitäten, eine im Bikini-Haus, das ist einfach der Kartenvorverkauf. Die zweite links neben dem Zoo Palast, ein Kabäuschen, wo du an einer Theke Sweatshirts oder Feuerzeuge oder elektronische Uhren erwerben kannst, die lieblos mit Berlinale-Logos geziert sind. Oder willst du eins der offiziellen Plakate erwerben?

Ich bin dann weitergewandert, sozusagen unter Inspiration. Zur Berlinale gehört eine bestimmte Technik des Anschauens von Leuten. Du wirst knapp länger als flüchtig betrachtet, damit du selber länger zurückschaust. Du wirst nicht als starverdächtig erkannt, umgekehrt: Du sollst als starverdächtig erkennen. Auf dem Ku'damm ein schmuckes Herrchen mit einem hübschen Brillchen und einem pastelligen Teint, den ich für Schminke halten wollte (das Dämchen an seiner Seite anzuschauen, dazu kam ich nicht mehr). Für einen Whit- Stillman-Film zu erwägen?

In der Wertheim-Cafeteria – ich aß Käsekuchen und trank ein Bier: Hier müßten jetzt Kontrastmitteilungen über das Catering im „CineCenter“ stehen, Sushi verzehrten die nervösen Geschäftsleute sowie Grünes in frischem oder gesottenem Zustand, nussig übersprenkelt –, in der Wertheim-Cafeteria Personen von Ken Loach oder Mike Leigh. Eine hübsche, sehr junge und sehr fette Frau, die wie im Rausch zwei Teller des Tagesgerichts verschlang; ein ärmliches Paar im Middle-age, das, so etwas habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, sich bloß zwei Teller mit Fritten leisten konnte. Darüber der Breitleinwandblick auf Charlottenburg. Michael Rutschky

Foto: Auch vor drei Jahren fanden sich im CineCenter an der Budapester nervöse Junggeschäftsleute