Wie das Auge die Welt sieht

■ Der Moment, in dem die Dinge ineinandergleiten: Jim Sheddens Porträt des US-amerikanischen Experimentalfilmers Stan Brakhage

Ins Kino geht man, um zu staunen. Dem Filmemacher dagegen muß sein Produkt als kontrollierte Abfolge technischer Prozesse erscheinen, die lange vor der Aufführung im Schneideraum zurechtgestutzt wurden. Das nimmt etwas vom Spaß an der Sache. Bei Stan Brakhage verhält es sich anders: Begeistert stürzt er sich auf die Welt, hält ein paar Momente fest und löst sie danach wieder in einen Schwall aus Kunst und Leben auf. Dabei versucht Brakhage, den Sehvorgang selbst zu filmen, und er kommt tatsächlich dem Moment sehr nahe, wo kein schwarzer Balken die Bilder mehr teilt. Dann gleiten die Dinge ineinander über, so wie das Auge die Welt wahrnimmt. Seit 1952 hat der damals neunzehnjährige Brakhage derart euphorisiert 300 Filme mehr oder weniger fertiggestellt.

Jim Sheddens Biographie über den Experimentalkünstler des US- Kinos ist zwar konventionell als Dokumentarfilm angelegt. Noch einmal wird die Geschichte erzählt, wie sich in den fünfziger Jahren aus Cut-up- und Collagetechniken das sogenannte psychodramatische Kino entwickelt hat. Doch die im Plauderton gehaltenen Interviews über Subjektivität und befreite Kameraschwenks machen nur einen geringen Teil von „Brakhage“ aus. Im Zentrum steht ein Marsch durch das monumentale Werk: Aus Dutzend Filmen driftet einem das Material entgegen. Oft sind es Zeitschnipsel des Privaten, Wälder in Denver, Colorado, Schatten auf dem Fußboden oder der Blick in den Unterleib von Jane Woodening bei der Geburt der ersten gemeinsamen Tochter. Vor allem aber filmt Brakhage Schichtungen, Risse und Spuren des Lichts.

Mitunter reicht das Fasziniertsein durch den visuellen Kosmos weit über menschliches Augenmaß hinaus. Plötzlich wird der Akt des Sehens zu einem des Zeugnisablegens: 1971 filmt Brakhage für „Seeing with one's own eyes“ eine Autopsie, bei der die Kamera in den aufgeschnittenen Körper eindringt. Hier hätte Shedden durchaus nachfragen können, ob Brakhages Suche nach „filmischer Wahrheit“ nicht in Heilsgeschichte umkippt – der Leichentisch als bewegtes Vanitas-Gemälde. Statt dessen schaut der kanadische Regisseur bestenfalls gebannt auf die toten Eingeweide.

Überhaupt liegen allerlei Ungereimtheiten auf dem Lebensweg des Filmemachers: 1959 zieht er sich mit Jane in ein Blockhaus zurück, die fünf Kinder wachsen abgeschieden in einer idyllhaften Natur auf, von deren Unberührtheit sich Brakhage per Kamera ständig neu vergewissert. Im nachhinein findet zumindest der Sohn diese Zeit eher lieblos: Sein Vater habe ihn nur als Filmthema benutzt. Heute wirkt auch der 66jährige Brakhage, der nach einer Krebserkrankung einen künstlichen Blasenausgang hat, einigermaßen desillusioniert. Seine Technik dient nicht mehr der Selbstfindung, sondern dem Flirren auf MTV. Seine Filme sind trotzdem radikal geblieben: Seit zwei Jahren schabt Brakhage Jackson-Pollock-artig abstrakte Bilder in Zelluloid. Ansonsten liegt er gern auf dem Rasen und schaut sich Feuerwerk an. In tiefer Verbundenheit. Harald Fricke

Heute, 12 Uhr, Akademie