Bilanz eines Übergangspräsidenten

■ Präsident Zéroual hat Algerien aus der schlimmsten Krise seiner Geschichte geführt. Mit seinem Rückzug beginnt ein neuer Abschnitt

„Ich war der Mann für die Drecksarbeit“, verabschiedete sich Algeriens Premier Ahmed Ouyahia vergangenen Dezember. Der Technokrat folgte damit seinem Ziehvater, Präsident Liamine Zéroual, der bereits drei Monate früher vorgezogenen Wahlen angekündigt hatte. Viel wurde seither über die Rückzugsgründe spekuliert. Streit mit der Armee, Machtkämpfe in der politischen Klasse oder nur gesundheitliche Probleme – der Ex-General schweigt sich aus. Doch eines steht fest: Was Ouyahia bereitwillig „Drecksarbeit“ nennt, hat Algerien aus der schlimmsten Krise geführt. Mit den Präsidentschaftswahlen im April beginnt ein neuer Abschnitt.

Als Zéroual und Ouyahia 1994 antraten, herrschte in Algerien das Chaos. Nach über zwei Jahren Militärherrschaft und Ausnahmezustand bestand noch immer die Gefahr, daß das Regime den Machtkampf mit den Islamisten nicht überleben könnte. Weite Teile des Landes galten als unkontrollierbar. Selbst in der Hauptstadt gaben die Islamisten in den Außenbezirken und in armen Vierteln der Innenstadt den Ton an. Gleichzeitig steckte Algerien in der tiefsten wirtschaftlichen Krise seit der Unabhängigkeit. Die Erdölpreise waren im Keller, die Devisen aufgebraucht, Schulden von 30 Milliarden US-Dollar unerträglich.

Zéroual und Ouyahia machten sich an die Arbeit. Die marode Staatsindustrie wurde umstrukturiert und zur Privatisierung freigegeben. Ein Umschuldungsabkommen mit französischen und britischen Banken unter IWF-Leitung zeigte makroökonomische Erfolge. Heute liegen 7,6 Milliarden Dollar auf der Zentralbank.

In Sachen innere Sicherheit setzte Zéroual auf eine doppelte Strategie. Zum einen ließ er die Kontakte zur seit 1992 verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS) nie ganz abreißen, zum anderen stellte die Armee deren bewaffnetem Arm, der Armee des Islamischen Heils (AIS), und den radikaleren Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) erbarmungslos nach. Daß dabei oftmals die Menschenrechte auf der Strecke blieben, interessierte nicht. Klagen internationaler Menschenrechtsorganisationen wurden ebenso als „nicht zu duldende Einmischung in innere Angelegenheiten“ abgetan wie die Fragen nach den Urhebern der Massaker an Zivilisten. Doch auch wenn es nie gelang, die Verantwortung für einzelne Überfällen direkt der Armee zuzuschreiben, so ist zumindest eines klar: Die Soldaten schauten oft genug gezielt weg. Schließlich traf es diejenigen, die einst der seit 1992 verbotenen FIS ihre Stimmen schenkten. Benthala, Rais und Relizane sind nur einige der Orte, die zu traurigem internationalem Ruhm gelangten.

Trotzdem gelang es Zéroual, eine internationale Isolierung abzuwenden. Er versah das Land mit neuen, maßgeschneiderten demokratischen Institutionen. Trotz des Ausschlusses der FIS und Klagen der Opposition über unsaubere Wahlen hat Algerien heute sicherlich das diskussionsfreudigste Parlament der arabischen Welt. Etwas, was auch die zwei EU-Delegationen und die UN-Beobachtergruppe, die das Land im Laufe des letzten Jahres besuchten, positiv anmerkten. Auch in Sachen Menschenrechte hat Zéroual erste kleine Zugeständnisse gemacht. Seit neuestem geben amtliche Stellen zu, daß tatsächlich Menschen verschwunden sind. Anzeigen von Familienangehörigen werden entgegengenommen und – so das Versprechen – auch bearbeitet. Die EU dankt es und stellt polizeiliche Zusammenarbeit in Aussicht.

Mittlerweile hat das Militär den Machtkampf mit den Islamisten für sich entschieden. Nachdem die AIS im Oktober 1997 einen Waffenstillstand verkündete, hatte die Armee den Rücken frei, um im Lauf des letzten Jahres die radikaleren GIA aus der Mididja, der fruchtbaren Ebene zwischen Algier und den ersten Atlasausläufern, zu vertreiben. Selbst in den Gebieten um Ain Defla im Westen und in der Kabylei im Osten der Hauptstadt setzen die Soldaten mittlerweile den Islamisten nach.

Die algerische Presse zählte während des Mitte Januar zu Ende gegangenen Fastenmonats Ramadan „nur noch“ 160 Tote. Was für westliche Ohren erschreckend klingt, ist für Algerier gleichbedeutend mit Ruhe. Vor einem Jahr waren es noch zehnmal so viele. Autobomben säten selbst in den Straßen der Hauptstadt den Terror. Dieses Mal blieb Algier bis auf zwei Verletzte und einen erschossenen Polizisten verschont. Erstmals scheint es tatsächlich gerechtfertigt zu sein, von „Restgewalt“ zu sprechen, wie Zéroual und Ouyahia es seit Jahren gern taten.

Eine positive Bilanz, lägen nicht noch immer Hypotheken auf der Zukunft des Landes – und damit auf der Amtszeit des künftigen Präsidenten, der erstmals ein Zivilist sein wird. Der militärische Erfolg über die GIA wird nur von Dauer sein, wenn es der Politik gelingt, die Ursachen der Gewalt anzugehen. Und diese sind vielfältig. Ein Land mit über 70 Prozent seiner Bevölkerung unter 30 Jahren kann sich auf Dauer keine astronomischen Arbeitslosenzahlen leisten. Nur wer auch für persönliche Zukunftsentwürfe eine berechtigte Perspektive – das heißt in erster Linie Arbeit und Wohnung – hat, läßt sich dauerhaft in die Gesellschaft einbinden. Doch Algeriens Wirtschaft ist weit davon entfernt, neue Arbeitsplätze zu schaffen. 300.000 Menschen verloren allein durch Ouyahias Umstrukturierung der Staatsindustrie ihre Arbeit. Und der Prozeß ist noch lange nicht abgeschlossen. Ständig sinkende Preise für Erdöl, das Hauptexportgut des Landes, könnten gar zu einer neuen Finanzkrise führen.

Sollte es dennoch gelingen, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen, bleibt die schwierige Aufgabe der Aussöhnung. Nur wenn Algerien den tiefen Riß, der die Gesellschaft nach sieben Jahren bürgerkriegsähnlichen Zuständen und 120.000 Toten teilt, überwinden kann, hat das Land Aussicht auf eine stabile Zukunft. Daß dies nicht einfach wird, zeigt die Auseinandersetzung um die Entschädigung der Opfer dessen, was die Regierung eine „nationale Tragödie“ nennt hat. Angehörigen der Terror- und Repressionsopfer sollen gleichermaßen entschädigt werden. Das Vorhaben wird voraussichtlich an den erbitterten Protesten der Vereinigung ihrer Angehörigen scheitern, die auf keinen Fall die gleiche Behandlung erfahren wollen wie die Täter. Und schon bald könnte ein neuer, wesentlich härterer Konflikt drohen. Die AIS verlangt als Gegenleistung für die Waffenruhe eine Amnestie für ihre Kämpfer. Und die FIS hat die Hoffnung auf eine Rückkehr auf die politische Szene noch nicht aufgegeben. Reiner Wandler

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