„Die Anarchie ist schon da“

■ Der Historiker Mosche Zimmermann über den Aufstand der Orthodoxen

taz: Der Oberste Gerichtshof hat in jüngster Zeit keineswegs nur gegen die Ultraorthodoxen Recht gesprochen. Ist das heutige Massengebet schon Teil des Wahlkampfes?

Mosche Zimmermann: Das ist nicht nur Teil des Wahlkampfes, sondern Teil des gesamten politischen Kampfes der ultraorthodoxen Öffentlichkeit um mehr Macht. Deren politische Führer haben kein Problem damit, einen Vorwand zu finden.

Amos Oz und andere israelische Autoren haben dazu aufgerufen, sich den liberalen jüdischen Bewegungen, den Reformisten und Konservativen, anzuschließen?

Oz und seine Kollegen versuchen, sachlich zu argumentieren, indem sie sich an die jüngsten Gerichtsentscheidungen halten, die zum Status der Reformjuden gefällt wurden. Meines Erachtens irren sie, denn diese Gerichtsentscheidungen sind für die Ultraorthodoxen nur ein Vorwand, um den Kampf zu rechtfertigen. Die Konkurrenz innerhalb der Religion ist nur ein Bruchteil des Kampfes.

Wo sind denn die Liberalen und die Weltlichen die ganze Zeit gewesen? Selbst die Studenten haben bei ihrem Hungerstreik gegen die hohen Studiengebühren die Frage der Gelderverteilung an die weltlichen und religiösen Hochschulen behutsam gemieden.

Das ist ein deutliches Zeichen dafür, daß der Kampf bereits verloren ist. Die Studenten wußten, daß sie gemeinsam mit den Orthodoxen kämpfen mußten, weil sie gegen sie keine Chance hatten. Dazu kommt, daß dieser Erfolg der Orthodoxie im Bewußtsein der weltlichen Öffentlichkeit noch nicht Realität geworden ist. Beides führt dazu, daß die Reaktion so verspätet kommt und so lahm ist. Ich schreibe seit Jahren darüber und werde allzuoft für einen Antisemiten gehalten. Man verwechselt antireligiös mit antisemitisch. Die Orthodoxen haben ein Monopol darauf gepachtet, Opfer von Antisemitismus zu sein. In Auschwitz wurden die Juden nicht unterschieden.

Ex-Justizminister Cohen spricht von drohender Anarchie.

Die Anarchie ist schon da. Übrigens gefährden nicht nur die Orthodoxen das legale System. Genauso schlimm sind die Rechtsextremen. Man muß sich nur ansehen, wie weit das Rechtssystem schon eingeschüchtert ist. Kach- Aktivisten, die hinter Gitter gehören, laufen frei herum. Es ist kein Wunder, daß die Mehrheit des national-religiösen Lagers, das die Siedler vertritt, für die Demonstration gesprochen hat. Interview: Susanne Knaul