Freiwild im Cyberspace

Virtuelle Realität als wackelige Brücke zwischen Kunst und Leben: David Cronenberg hat für seinem neuen Film „Existenz“ schamlos das eigene ×uvre geplündert  ■ Von Harald Fricke

Weil die Ungereimtheiten im Alltag der Berlinale überhandnehmen, hilft statt Kino manchmal Existentialismus weiter. Dann zieht man sich mit Camus, Sartre oder Kierkegard zurück und freut sich über das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Was sollte Film denn anderes sein?

David Cronenberg hat seinen SchauspielerInnen zur Vorbereitung auf „Existenz“ noch ein paar Bände Nietzsche mit dazugepackt, weil er es gern ein bißchen vergrübelter mag. Aber die Marschrichtung ist klar: Wenn die Welt künstlich wird, wie real ist dann das Leben? Sartre hätte vermutlich bloß mit den Augen gerollt und Cronenberg dafür gescholten, daß die Frage nach der Beziehung von Realität und Welt falsch gestellt ist.

Weil Sartre aber schon lange tot ist und Cronenberg 38 Millionen Dollar für „Existenz“ zur Verfügung standen, muß man sich bei ihm mit Virtual Reality als einer wackligen Brücke zwischen Kunst und Leben herumschlagen. Der Gott aus dem Computer also – dabei ist „Existenz“ bloß ein Spiel. Eine Frau hat es entwickelt, um die Menschheit zu verführen, weshalb Jennifer Jason Leigh in der Rolle der Game-Designerin Allegra Geller das Haar medusenhaft gelockt trägt und schlangenartig mit den Armen über Wände streicheln darf. Zwölf Mitspieler werden von ihr ausgewählt, um „Existenz“ auf Markttauglichkeit zu prüfen.

Als Konsole dient ein DNS-Mutant, der wie eine wandelnde Leber aussieht, die Verkabelung wird über die Wirbelsäule direkt ans zentrale Nervensystem angeschlossen, das Knochenmark schwingt lustig mit. Dazu läßt Howard Shore die Melodie aus „Spiel mir das Lied vom Tod“ grummeln, und man weiß, daß Leichen bald die Wege pflastern werden. Zunächst wird jedoch Geller selbst von einem Realitäts-Fanatiker angeschossen – mit einer Waffe aus Knochen und Knorpel, und Zähnen als Munition. Angeblich ist über die VR-Spezialistin eine Fatwa verhängt worden, so daß sie in ihrem eigenen Spiel gemeinsam mit dem smarten, aber nicht eben technikbegeisterten Ted Pikul (Jude Law) als Freiwild durch den Cyberspace geistert.

Cronenberg wollte mit dieser Idee auch ein Zeichen für mehr Toleranz gegenüber den Künsten setzen, nachdem er Salman Rushdie zum Interview getroffen hatte und sein eigener Film „Crash“ wegen Pornographie nicht in England gezeigt werden sollte.

Tatsächlich tauchen nun auch in „Existenz“ wieder jede Menge künstliche Körperöffnungen auf, die mit Gel bestrichen werden müssen, damit rosa wabbelnde Dinge dort leichter eindringen können. Offenbar kommt Cronenberg als Filmemacher zur Zeit nicht recht vorwärts: Mit „Existenz“ zitiert er sich von „Videodrome“ bis hin zu „Naked Lunch“ oder „Crash“ reichlich und schamlos durch sein früheres ×uvre und erklärt dabei jede Pointe dreimal. Stets müssen Leigh, Law oder irgend jemand anderes sagen, daß dies nicht Realität ist und alle nur Rollen spielen – Kino über Kino eben. Unterdessen krabbeln komische doppelköpfige Echsen in der VR-Welt umher, genetisch verformte Forellen werden kleingehackt, und das Labor zur Spieleentwicklung erinnert mehr an ein Schlachthaus. Ganz wie in den achtziger Jahren freut sich Cronenberg über Medizin und Unterhaltung. Die Philosophie geht dabei ziemlich schnell verloren: Am Ende wird alles kurz und klein geschossen, die Sieger brüllen „Nieder mit Transzendenz“, und ein verdutzter Bodyguard fragt: „Sind wir noch im Spiel?“ Bei Camus heißt die Antwort, daß man sich Cronenberg als einen glücklichen Menschen vorstellen muß. Oder so ähnlich.

„Existenz“. Regie: David Cronenberg. Mit Jude Law, Jennifer Jason Leigh, Willem Dafoe, Sarah Polley u.a., GB, 108 Min.

Heute, 15 Uhr Royal Palast, 18.30 Uhr Urania, 22.30 Uhr International