„Wiederbelebung der Inquisition“

Angesichts der von SPD-Justizsenator Erhart Körting geplanten „Richtlinie zur Jugendkriminalität“ befürchten Richter, Anwälte und Gerichtshilfe eine Aushöhlung der Gewaltenteilung und den Machtausbau der Polizei  ■ Von Andreas Spannbauer

Mit ihrem Vorhaben der neuen „Richtlinie zur tatnahen Reaktion auf Jugendkriminalität“ stößt die Senatsverwaltung für Justiz auf heftige Kritik. Die Vereinigung Berliner Strafverteidiger lud kürzlich zur Diskussion, denn viele Juristen befürchten die Aushöhlung der Gewaltenteilung und den „Ausbau des Machtapparats der Polizei“. Es stelle sich die Frage, ob die Justiz „entlastet oder entmachtet“ werde.

Tatsächlich solle die Polizei zukünftig in einem „bisher nicht dagewesenen Ausmaß“ Aufgaben der Judikative wahrnehmen, schilderte Rechtsanwalt Volker Ratzmann dei Konsequenzen der Gesetzesnovelle. Ihr Inhalt: Speziell ausgebildete „Jugendpolizisten“ sollen nach einem Gespräch mit dem verdächtigen Jugendlichen der Staatsanwaltschaft Vorschläge zur Einstellung von Jugendstrafverfahren unterbreiten. Dabei kann die Polizeibehörde im Gegenzug dem Jungdelinquenten auch Saktionsmaßnahmen auferlegen. Der Jugendstaatsanwalt müsse, so berichtet Ratzmann, diese dann lediglich „telefonisch“ legitimieren.

Die Anwälte sehen darin erhebliche rechtsstaatliche Defizite. „Ein Verteidiger kommt in dem Entwurf nicht vor“, kritisierte Matthias Zieger von der Vereinigung Berliner Strafverteidiger. Auch nach der Miteinbeziehung der Erziehungsberechtigten in das Gespräch suche man vergeblich. So sitze der aus Vernehmungen gesprächserfahrene Ermittler dem sozial inkompetenten Jugendlichen gegenüber, der letztlich seinem Gegenüber ausgeliefert sei. Zudem stelle das Procedere die Jugendlichen unter „Aussagezwang“ – wer sich nicht auf die Maßnahme einlasse, der werde vorhersehbarerweise im weiteren Verlauf des Verfahrens als „uneinsichtig“ abgestempelt.

Jugendliche, so Ziegler, könnten daher in vielen Fällen unabhängig von ihrer Schuld oder Unschuld den Weg des einfachsten Widerstands gehen und sich auf Sanktionsangebote der Behörde einlassen.

Auch in Justizkreisen ist man mit dem neuen Verfahren nicht glücklich. Der Landesvorsitzende der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte nannte den Plan eine eindeutige „Aushöhlung des richterlichen Sanktionsmonopols“ und damit einen Verstoß gegen die Gewaltenteilung. Das Zusammenfallen von Ermittlungs- und Sanktionskompetenz „eröffne tendenziell den Inquisitionsprozeß wieder“. Dem Staatsanwalt würden möglicherweise in Zukunft mehr Möglichkeiten in die Hand gegeben als dem Richter.

Und auch bei der Jugendgerichtshilfe (JGH) regt sich schließlich Empörung. Monika Bremer von der JGH Kreuzberg monierte, man habe erst vor zehn Tagen von der geplanten Gesetzesänderung erfahren – schon am morgigen Donnerstag soll diese im Rechtsausschuß verhandelt werden. Der Sozialarbeiterin ist vor allem die Verwischung von polizeilichen und sozialpädagogischen Aufgaben ein Dorn im Auge. Es sei absurd, daß ein Polizist, der einen Verdächtigen verhaftet habe, ihn hinterher vor Sanktionen bewahren solle.

Der Vertreter der Justizverwaltung, Lutz Diwell, verteidigte den Entwurf mit dem Verweis auf „Effizienz“ und „Entlastung der Justiz“. Man wolle möglichst schnell reagieren, wenn „die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß der Täter vor einem sitzt“.

Daraufhin konnte die rechtspolitische Sprecherin der Grünen, Renate Künast, ihre Verärgerung nicht mehr zurückhalten: Sie komme sich vor „wie im Kabarett“ – vor lauter Paragraphen sei von Hilfe für den Jugendlichen nicht mehr die Rede.

Es sei unglaublich, daß allein die Schuldvermutung der Polizei das Verhängen von Sanktionen rechtfertige. Schuld müsse erwiesen statt nur „wahrscheinlich“ sein. Anstelle „öfter auch mal den Falschen zu treffen“, solle man in vielen Fällen von Jugendkriminalität schlicht auf Strafmaßnahmen verzichten. Schließlich legten 90 Prozent der betroffenen Jugendlichen in ihrem weiteren Leben ohnehin ein strafrechtlich unauffälliges Verhalten an den Tag, so Renate Künast.