„Westliche Werte aus Indien“

■ Denken für ein gutes Leben. Die amerikanische Philosophin Martha C. Nussbaum im Gespräch über US-Talkshows, finnische Philosophen, kulturellen Universalismus und Relativismus

taz: Frau Nussbaum, Feminismus und Kommunitarismus sind die Stichworte, mit denen man Sie hierzulande in Verbindung bringt. Wie geht das beides zusammen?

Martha Nussbaum: Es gibt viele Feministinnen, die eine bestimmte Form von Kommunitarismus betreiben. Ich denke, daß das nicht unproblematisch ist, weil viele Spielarten des Kommunitarismus dazu nötigen, sich den Traditionen einer bestimmten Gemeinschaft und ihren moralischen Richtlinien zu fügen. Dagegen steht die Suche nach universellen Normen – wie jenen der Aufklärung – zumeist im Hintergrund. Und natürlich waren die meisten dieser zum Teil überkommenen Traditionen und Gemeinschaften antifeministisch und haben die Frauen den Männern untergeordnet. Die Frauen können vom Kommunitarismus aber natürlich einiges übernehmen, und das ist die Wichtigkeit von Liebe und Freundschaft in einem erfüllten menschlichen Leben. Aber das sollte nicht dadurch geschehen müssen, daß Frauen und Männer sich notwendigerweise den Gemeinschaftstraditionen unterwerfen müssen.

Mit den Kommunitaristen verbindet Sie aber doch, daß Ihre Arbeit von höchst praktischen Problemstellungen bestimmt war und ist. Sie haben sogar mehrere Jahre lang für die UNO gearbeitet. Wie kam es dazu?

Das Ganze begann mit einem Papier, das ich mit dem Harvard- Ökonomen Amartya Sen (dem Wirtschaftsnobelpreisträger 1998, d. Red.) für eine Konferenz über Werte und Technik verfaßt hatte. Auf dieser Konferenz sah ich, daß man sich in diesen entwicklungsökonomischen Debatten zwar auf philosophische Ideen bezog, aber auf eine recht schlampige Weise – gerade so, als ob von der Philosophie gerade bewiesen worden wäre, daß man kulturelle Traditionen nicht kritisieren könne. Also dachte ich, daß wir ein Projekt entwerfen sollten, das die Philosophie in diese Diskussion einbringt. Zugleich sollte es aber auch die Debatten zwischen Relativismus und kulturellem Universalismus bearbeiten und die Grenzen des Utilitarismus aufzeigen, wie er von den meisten Ökonomen vertreten wird. Das war nur der Anfang von letztendlich acht Jahren Arbeit für das Institut für Entwicklungspolitik der UNO.

In Ihren Arbeiten über Frauen in Entwicklungsländern vertreten Sie eindeutig universalistische Positionen. Sie haben sogar einen Katalog von allgemeinen Voraussetzungen für das Wohlergehen bzw. das „gute Leben“ aufgestellt. Wie verteidigen Sie das gegenüber möglichen Einwänden der kulturellen Relativisten bzw. angesichts der Diskussionen um den Postkolonialismus?

Ich denke, daß es einige gute Gründe gibt, universalistische Ansätze zu hinterfragen. Es geht ja auch um Länder, die von westlichen Staaten kolonisiert worden waren, und es ist sehr problematisch, bestimmte Konzepte aus den kolonialisierenden Staaten zu importieren. Vor allem vor diesem Hintergrund sind westliche Intellektuelle sehr vorsichtig geworden, kritische Einwände gegenüber bestimmten Traditionen zu äußern – zu vorsichtig, wie ich meine. Denn zugleich wollen emanzipierte Frauen in Indien oder China nichts davon hören, daß sie sich in ihre uralten kulturellen Traditionen fügen sollen. Tatsächlich sind diese Frauen entschiedene Befürworterinnen von Rechten, Freiheiten und Werten der Aufklärung. Es ist nicht auch zuletzt die Internationalität der Frauenbewegungen, daß sich vieles in Richtung Universalismus bewegt. Auf der anderen Seite habe ich selbst eine Menge von der Zusammenarbeit mit selbständigen Frauengruppen in Indien gelernt.

Können Sie ein Beispiel dafür geben?

Zum Beispiel die Wichtigkeit von Eigentumsrechten. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, weil die westliche Tradition die Eigentumsrechte ohnehin stark betont. Und als Reaktion auf einige meiner konservativeren Kollegen, die über nichts anderes als Eigentumsrechte sprechen, hatte ich das in meinem Ansatz für weniger wichtig erachtet. Aber dann sagten mir Frauen in Indien, daß für sie Eigentum viel wichtiger sei als Bildung, da es die Bedingung dafür sei, die eigenen Körper gegen Gewalt zu schützen. Damit ist es das wichtigste Verhandlungsinstrument, das sie haben. Meine Position wurde durch die Gespräche in eine Richtung gelenkt, die noch „westlicher“ war als jene, mit der ich begonnen hatte. Die Lehre daraus ist, daß diese Werte nicht nur westliche Werte sind, sondern daß auch indische Frauen selbst über die Bedeutung des Rechts auf Privateigentum nachdenken. Die müssen das nicht erst von John Locke lernen!

Gibt es auch Gegenbeispiele, wo diese Erfahrungen Sie auch gezwungen haben, einen gewissen Relativismus einzubauen?

Nun, ich arbeite auf einem relativ hohen Abstraktionsniveau, aber auch dafür muß man viele Erfahrungen sammeln, zuhören und reisen. Und dann muß man das auf eine Art theoretisieren, die auch Freiräume und Gestaltungsspielräume für regionale Eigenheiten läßt. Ich betone, daß die Norm ein Set an Möglichkeiten sein soll, denn das Gute besteht darin, eine Anzahl von Möglichkeiten zu haben. Und um sich in einer solchen Position zu befinden, braucht es bestimmte materielle Vorbedingungen: Es genügt nicht, daß das Recht auf solche Möglichkeiten nicht nur in der Verfassung eines Landes steht, sondern diese Rechte müssen auch in der realpolitischen Welt verwirklicht sein. Wenn ich auf meine Liste die Ermöglichung von sinnvoller Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, von Liebe und Freundschaft, aber auch von politischer Mitgliedschaft setze, dann kann die Form, in der das geschehen kann, von Land zu Land sehr verschieden sein. Wir amerikanischen Frauen beispielsweise sind sehr auf die Kernfamilie und romantische Beziehung bezogen, indische Frauen dagegen viel weniger darauf als auf Solidarität unter einer ganzen Gruppe von Frauen. Und ich denke, daß beides gute und gleichberechtigte Alternativen sind.

Sie vertreten nicht nur universalistische Ansätze, Sie haben sich in den vergangenen Jahren auch gegen den Patriotismus in den USA ausgesprochen. Was hat Sie dazu bewogen?

Es gab da zwei Dinge, warum ich darüber schreiben wollte. Zum einen habe ich lange darüber nachgedacht, wo unsere grundlegenden Loyalitäten liegen sollten – sowohl im Zusammenhang mit einer UNO-Tätigkeit wie auch mit meinem eigenen Leben. Dann schrieb Richard Rorty 1994 diesen Aufsatz, in dem er behauptete, daß die Linke den Patriotismus nicht verächtlich machen, sondern verteidigen sollte. Daran ist schon richtig, daß die Linke sich nicht auf einen einzigen Standpunkt beziehen und nichts verächtlich machen sollte, sondern – wenn schon – dagegen argumentieren muß. Aber ich meine, daß Rorty allzu vorschnell universalistische moralische Sichtweisen zurückwies und statt dessen Loyalität gegenüber einer lokalen Gruppe vorzog. Zum anderen war ich Teil einer Arbeitsgruppe, die von der Nationalen Stiftung für Geisteswissenschaften zusammengestellt wurde, um eine Diskussion über die US-amerikanische Identität anzuregen. Da gab es dann alle möglichen Fragen dazu, ob wir mehr Identitätsgefühl als US- Amerikaner oder ob wir nun mehr Loyalität gegenüber unseren lokalen Gemeinschaften haben sollten – wie religiösen Vereinigungen oder Frauen- und Männerorganisationen. Aber niemals wurden Fragen angesprochen, die unsere Beziehungen zum Rest der Welt problematisierten. Das war so typisch amerikanisch!

War das nun tatsächlich eine bloß US-amerikanische Diskussion oder kann man davon auch in Europa etwas lernen?

Diese extreme Form des Isolationismus, wie er in den USA vorherrscht, kann sich kein europäisches Land leisten. Während die meisten Europäer mehr als eine Sprache sprechen, können das beispielsweise nur sehr wenige US- Amerikaner. Es ist ziemlich schwierig, an einer High School eine zweite Sprache zu erlernen, eine dritte Sprache zu lernen ist schon fast unmöglich. Doch ich denke, daß es da einige Argumente gibt, die auch über die USA hinaus von Interesse sind. Die Welt ist ja immer noch rund um den Nationalstaat organisiert, und selbst die wichtigsten Gerechtigkeitstheorien – inklusive jener von Jürgen Habermas und von John Rawls – sind Theorien distributiver Gerechtigkeit, die den Nationalstaat als grundsätzliche Einheit anerkennen. Ich meine, daß sich das letztendlich ändern muß und wir uns viel mehr um Gerechtigkeit zwischen den Nationen kümmern müssen. Wir müssen die Geschichte dieser Fragestellungen wieder aufnehmen, weil ich denke, daß die griechischen Stoiker oder Kant in diesem Zusammenhang neu bewertet werden müssen. Aber diese Debatte muß natürlich auch auf die neuen Verhältnisse abgestimmt sein: Wir sind heute sehr viel abhängiger voneinander als je zuvor.

Kann dabei die Philosophie an Schulen und Hochschulen tatsächliche eine Rolle übernehmen?

Philosophiekurse können in diesem Prozeß der Erzeugung guter Staatsbürger nach wie vor eine wertvolle Rolle spielen. Was wir wirklich wollen, ist die Vermittlung sokratischer Prozesse des wechselseitigen Kritisierens unserer eigenen Traditionen: was es heißt, mit jemandem zu argumentieren und auf die Voraussetzungen und Schlußfolgerungen zu achten. Junge Menschen in den USA werden mit Talkshows bombardiert, wo Menschen sich gegenseitig beleidigen. Das ist ein schrecklicher Einfluß. Die Philosophie steht dem entgegen.

In Ihrem Buch „Poetic Justice“ beklagen Sie sich darüber, daß die öffentliche Beteiligung der Philosophie in den USA verglichen mit europäischen Ländern sehr beschränkt sei. Ist es hier wirklich so viel besser?

Ich dachte da in erster Linie an Skandinavien. Jedes Mal, wenn ich dort bin, finde ich auf dem Cover einer schwedischen Tageszeitung Diskussionen über philosophische Fragen. Und wenn ich irgendwelche Vorlesungen in Uppsala halte, machen Tageszeitungen aus Stockholm ein Interview und bringen das groß in ihrem Blatt. Ähnlich ist es in Finnland: Wenn die finnische Regierung irgendwelche Fragen zu Konzepten des guten Lebens hat, die sie in ihrer Sozialpolitik umsetzen will, wendet sie sich an die Philosophen. So würde ich mir auch für die USA wünschen, daß wir Intellektuellen mehr Möglichkeiten hätten, mit der breiten Öffentlichkeit zu kommunizieren. Interview: Klaus Taschwer