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Christoph BiermannIn Fußballand

■ Tabelle des Grauens: Gleich hinter dem Meister beginnt das Gemetzel

Voraussehbarkeit ist das Gegenteil von Spannung. Das ist zwar kein Satz von großer gedanklicher Tiefe, aber der FC Bayern wird den Titel des Deutschen Meisters gewinnen und Mönchengladbach absteigen. Mit den Borussen vom Niederrhein wird wohl der Club aus Nürnberg und die Eintracht aus Frankfurt in die Zweite Liga müssen. Auch darüber hinaus scheint uns der bevorstehende nachwinterliche Teil der Bundesliga-Saison nicht durch Spannung zu fesseln. Ausbalanciert sind die Kräfte nicht, die Rollen zu deutlich verteilt. Andererseits mag jeder wahre Freund des Spiels seine eigene Spannung entwickeln, und sei es in der Frage: Wird der wiedergenesene Thomas Stickroth im Trikot des VfL Bochum erneut einen Gottesbeweis liefern können und ihm seine Fans wie einst als Fußballgott huldigen können? (Ich bin selbstverständlich fest überzeugt davon.)

Dann gäbe es im Internet, diesem Wunderland für Trainspotter, Fliegenbeinzähler und andere Nerds, vielleicht auch endlich eine Seite, die Leben und Wirken Stickroths würdigen könnte; als schöne Abwechslung zu den Fan-Pages, die überquillen von rein statistischen Informationen. Die Hochburg dieses Irrsinns ist die offensichtlich an der Universität im österreichischen Linz ins Netz gestellte Seite der verdächtig komplex benannten Rec.Sport.Soccer.Statistics.Foundation (kurz: RSSSF). Unter der Anschrift www.risc.uni- linz.ac.at/non-official/rsssf/ nersssf.html liefern viele Menschen (Männer!) aus aller Welt in trostspendender Stupidität genug Material, auf daß eines Tages keine Ergebnislücke zwischen der vierten finnischen Liga, dem sambischen Cup-Wettbewerb und der Stadtmeisterschaft von Córdoba/Argentinien sei.

Ein Abfallprodukt dieser Sammelei ist die Abteilung „Trivia“, ein Mischmasch von Auffälligkeiten, darunter auch „The most balanced season“. Womit wir wieder bei der Frage wären, was eine Saison eigentlich spannend macht. Das entscheidende Indiz liefert die Gruppe VIII-a der dritten rumänischen Liga in der Saison 1983-84. Bemerkenswert ist schon die ausgeglichene Namensgebung der Klubs, genau die Hälfte heißt Minerul. Aber das ist nur der Anfang, denn diese Tabelle ist unglaublich. Weshalb wir einem Moment innehalten, um uns in dieses Wunderwerk der Ausbalanciertheit zu versenken. Zuvor nur dies noch vorweg: Der Erste stieg auf, die beiden letzten der Tabelle stiegen ab. Damals gab es nur zwei Punkte für einen Sieg, im Fall gleicher Punktzahl wurde zunächst die Tordifferenz und dann die Zahl der Siege herangezogen.

1. Muresul Deva53:33 Tore/38 Punkte

2. UMT Timisoara57:37/31

3. Mecanica Orastie49:53/31

4. Minerul Paroseni41:46/31

5. Minerul Moldova41:39/30

6. Minerul Stiinta38:47/30

7. Metalul Bocsa40:32/29

8. Dacia Orastie58:50/29

9. Minerul Certej48:47/29

10. Metalul Otelu-Rosu38:40/29

11. Minerul Anina46:48/29

12. Victoria Calan35:37/29

13. Constr. Timisoara57:62/29

14. Minerul Oravita39:45/29

15. Minerul Ghelar35:52/29

16. Minerul Aninoasa32:39/28

Puh! Sehen wir mal von den Spielverderbern Muresul Deva ab, die sich am weitesten aus allem rausgehalten haben, ein Tabellenstand des Grauens. Gleich hinter dem Meister beginnt das Gemetzel. Drei Punkte beträgt der Unterschied zwischen dem zweiten Tabellenplatz und dem letzten. Der Dritte hat ein negatives Torverhältnis, der Neunte ein Positives. Hätte der Letzte aus Aninoasa einige Torchancen mehr verwertet, das Untere wäre zuoberst gekehrt. In jener Saison in einem abgelegenen Winkel Rumäniens muß jeder Spieltag ein Alptraum gewesen sein. Ein unerträgliches Hin und Her, gigantische Sprünge und tiefe Stürze im direkten Wechsel. Gut, daß der Saisonverlauf nicht dokumentiert ist, vor allem die letzten Spieltage müssen die Hölle gewesen sein.

Das kann kein Zufall sein, wahrscheinlich steckt dahinter ein geheimer Versuch der Fifa, eine Art Agent Orange der Höchstspannung im Freilandversuch. Mit den Rumänen kann man es ja machen. Woanders hätten sie Derartiges nicht gewagt. Würde eine Bundesligatabelle so aussehen, Deutschland wäre vor unerträglicher Spannung außer Betrieb gesetzt. Die Menschen würden ihre Arbeit nicht mehr machen und verwahrlosen. Na, vielleicht ist das übertrieben, aber es hilft, uns demütig ins Voraussehbare zu fügen.

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