Siegesgewißheit bis zum Dorf Stoenesti

Aus Wut über das Gerichtsurteil gegen ihren Anführer Miron Cozma marschieren Tausende rumänische Bergarbeiter in Richtung Bukarest. Doch der geballten Macht von Polizei haben sie am Ende dann doch nichts entgegenzusetzen  ■ Von Keno Verseck

Der Mann mit der Glatze und dem langen Vollbart schließt das Ladegerät an sein Mobiltelefon an. Dann läßt er sich erschöpft auf einen Stuhl fallen und bestellt einen Kaffee und 50 Gramm Wodka „Perfect“. Er befiehlt einem jungen Mann, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn der Rest der Kolonne ankommt. Wie geht es jetzt weiter? Was werden die Bergarbeiter in Bukarest machen? Die Regierung stürmen? Er lächelt. „Wir werden demonstrieren. Und es gibt ja unterschiedliche Formen von Demonstrationen.“ Sterian Casapu, Gewerkschaftschef der Bergarbeiter in der Mine Dilja, gibt auf alle Fragen ausweichende Antworten. Dann erzählt er von den Kulturprojekten im Schiltal. Er will eine Kunstanthologie mit Gemälden von Malern aus dem Schiltal herausgeben. „Es gibt dort auch noch etwas anderes als die sogenannten wilden, barbarischen Bergarbeiter“, sagt er.

Südrumänien, in der Nacht zum Dienstag. Die Vorhut der Bergarbeiter, drei Busse und einige Pkws, haben an einer Raststätte vor der Stadt Craiova haltgemacht. Ein paar Kilometer weiter hinten wartet das Gros der Kolonne. Der mysteriöse weiße Ford mit den dunklen Scheiben und den unkenntlich gemachten Nummernschildern ist vorausgefahren, um weitere Straßensperren auszukundschaften. Bis jetzt sind die Bergarbeiter gut vorangekommen. Sterian Casapu ist müde, aber er lächelt. „Wir können alle Straßenblockaden überwinden“, sagt er. Er ahnt noch nicht, daß in wenigen Stunden alles zu Ende sein wird.

Am Dienstag vormittag sind die Bergarbeiter aus dem Schiltal zum sechsten Mal in neun Jahren und zum zweiten Mal binnen eines Monats aufgebrochen, um die Hauptstadt Bukarest zu stürmen. Der Grund: Ihr Führer Miron Cozma ist am Montag im Prozeß um den dritten Bergarbeitermarsch auf Bukarest im September 1991, bei dem die Regierung unter Petre Roman gestürzt wurde, zu achtzehn Jahren Haft wegen Untergrabung der staatlichen Autorität verurteilt worden. Nur der Sturz der Regierung kann Cozma vor dem Gefängnis bewahren.

Tirgu Jiu am Dienstag nachmittag. Die viertausend Bergarbeiter sind in mehreren Schüben die fünfzig Kilometer aus dem Schiltal gekommen und haben sich auf einem zentralen Platz versammelt. „Was hättest du an meiner Stelle gemacht“, fragt ein Bergarbeiter aus Petrosani. „Ich habe fünf Kinder zu Hause und eine Frau ohne Arbeit. Wenn ich entlassen werde, haben wir nichts mehr zu essen.“ Der Mann macht einen verzweifelten, unsicheren Eindruck. Wie es genau weitergehen wird, weiß er nicht. Die Gewerkschaftsführer legen den Einsatzplan fest.

Langsam und unter ständigem Hupen setzt sich die Kolonne in Bewegung. Keine Ordnungskräfte sind in Sicht. Am Straßenrand stehen Hunderte von Menschen und jubeln den Kumpeln zu. „Cozma, Cozma!“ Mit dreißig Stundenkilometern geht es die Europastraße 70 entlang. Überall in den Dörfern stehen die Einwohner am Straßenrand und feuern die Bergarbeiter an. „Bravo! Stürzt sie!“ Die Insassen von Autos mit Bukarester Nummern müssen für den Haß der Leute auf die Zentrale herhalten: Die Einwohner beschimpfen sie als Kriminelle und schlagen mit Fäusten auf die Wagendächer.

Rovinari, eines der größten Wärmekraftwerke in Südrumänien. Der erste Halt. Im Kraftwerk wird auch Kohle aus dem Schiltal verheizt, in der Stadt leben viele Bergarbeiter. Die Angestellten sind aus dem Kraftwerk gekommen und diskutieren mit den Leuten aus dem Schiltal. „Die machen genau das Richtige“, flüstert eine Frau – ein Werkspolizist steht neben ihr. „Wir haben kein Streikrecht“, sagt sie, „weil das Werk nicht stillstehen darf.“ Rovinari ist eines der Symbole für das Elend in Rumänien. Die Bewohner leben in heruntergekommenen Wohnblocks und haben seit Jahren weder Wasser noch Heizung. Jetzt sind sie begeistert vom Marsch auf Bukarest. Auf dem Hügel, einige Kilometer vom Kraftwerk entfernt, haben sich Hunderte Einwohner versammelt und rufen „Cozma, Cozma!“

Nach siebzig Kilometern stehen die ersten Polizisten an der Straße. Sie lassen den Konvoi passieren und geben es schnell auf, alle Autonummern zu notieren. Zehn Kilometer weiter folgt die nächste Sperre, diesmal schon beeindruckender. Ein Lkw blockiert eine Fahrbahn, dahinter haben sich dreißig Gendarmen postiert, schließlich steht noch ein Autobus quer auf der Fahrbahn. Doch die Bergarbeiter haben Platz genug für die Durchfahrt, und den Bus schieben sie mit dreißig Mann einfach die Böschung hinunter. Die Gendarmen ergreifen die Flucht. „Schande, Schande!“ rufen ihnen die Bergarbeiter zu und werden immer siegessicherer. Andere Sperren überwinden sie ebenso leicht. Hunderte von Einwohnern in der Großstadt Craiova empfangen sie begeistert.

Die Siegesgewißheit der viertausend Kumpel dauert bis zum Dorf Stoenesti an. Vier Uhr morgens. Es sind nur noch 160 Kilometer bis Bukarest. Doch hier blockiert ein Panzer die Brücke über den Fluß Olt. Auf der anderen Seite des Ufers stehen einige hundert Polizisten. Die Bergarbeiter werfen Steine und Molotowcocktails. Diesmal flieht keiner. Über die Brücke dringen die Ordnungstruppen vor. Plötzlich tauchen aus dem Dunkel von allen Seiten Uniformierte auf. Die Bergarbeiter sind eingekreist. Polizisten beginnen, die Reifen der Busse und Autos zu zerstören und die Kühler zu zerschlagen. Irgendwann ist alles in Tränengasschwaden gehüllt.

Zwei Stunden dauert das Gefecht, dann haben die Ordnungstruppen die Bergarbeiter auseinandergetrieben. Einige Bergarbeiter laufen über die Felder, andere versuchen sich in den Häusern des Dorfes zu verstecken. Die Gewerkschaftsführer sind geflüchtet. Bei Tagesanbruch ist die Gegend von Glasscherben und Steinen übersät. Die ersten Dörfler fangen an, ihre Zäune zu reparieren.