Kulturschock der Eingeborenen

Die Bonner kommen. Und bringen mit ihren Diplomatenkindern, Ministerialräten und Flügelkämpfen alles durcheinander. Die Berliner Politik fürchtet und ersehnt den Umzug der Bundesregierung in die neue Hauptstadt. Was passiert, wenn der angekündigte Aufbruch aus Bonn auf die organisierte Lähmung in Berlin trifft? Ein Lagebericht  ■ Von Dorothee Winden

Klaus-Rüdiger Landowsky hat wieder mal den richtigen Riecher gehabt. Wie jedes Jahr lädt der CDU- Fraktionschef Ende Februar Berliner JournalistInnen und CDU-PolitikerInnen zum „Medien-get together“. Dieses Mal findet der beliebte Empfang in der „Ständigen Vertretung“ statt – dem gastronomischen Vorboten der Bonner. Die Wahl dieses Lokals ist, wenige Monate vor dem Umzug der Bundesregierung an die Spree, eine wohlkalkulierte Willkommensgeste. Die „Ständige Vertretung“, die der Bonner Promi-Wirt Friedel Drautzburg vor anderthalb Jahren eröffnet hat, soll zur Begegnungsstätte für Bonner und Berliner Politik werden.

Mit gespannter Erwartung sehen die Berliner PolitikerInnen der Ankunft von Bundesregierung und Parlament entgegen. Daß „die Bonner“ unter sich bleiben könnten, glaubt inzwischen niemand mehr. Wohlwollend wird zur Kenntnis genommen, daß viele gar nicht erst in eine der eigens gebauten Abgeordnetenwohnungen im Regierungsviertel einziehen wollen, sondern sich in der Stadt eine Bleibe suchen. Und viele Bonner PolitikerInnen pendeln auch bereits. „Man trifft die doch jetzt schon im Theater, in den Kneipen, in den Restaurants“, sagt SPD- Spitzenkandidat Walter Momper, der bei der Abgeordnetenhauswahl am 10. Oktober eine rot-grüne Mehrheit erreichen will.

Die mitten im Regierungsviertel gelegene „Ständige Vertretung“ wird eine erste Anlaufstelle sein, doch werden die Bonner ausschwärmen und die Stadt entdecken wollen. In den Nobelrestaurants rund um den Gendarmenmarkt – einen Steinwurf von der Friedrichstraße und der Flaniermeile Unter den Linden entfernt – werden sie zu finden sein, aber auch in den Bars und Galerien im nahe gelegenen Scheunenviertel.

So fremd, wie man befürchten könnte, sind sich Bonner und Berliner Politiker nicht durchgängig. So gibt es überraschende Querverbindungen zu entdecken: CDU-Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landowsky ist beispielsweise mit der SPD- Bundesjustizministerin Herta Däubler- Gmelin per du. Beide haben in den späten sechziger Jahren an der Freien Universität Berlin Jura studiert. Auch Knut Nevermann, den Cheforganisator von Kulturminister Michael Naumann, kennt Landowsky noch von den Barrikaden aus den bewegten Studententagen an der FU. Allerdings stand man auf verschiedenen Seiten: Nevermann war Asta-Vorsitzender, Landowsky gehörte einer schlagenden Verbindung an.

Doch von biographischer Vergangenheitsbewältigung abgesehen: Wie wird es sein, wenn die rot-grüne Bundesregierung auf die Große Koalition trifft, der angekündigte Aufbruch auf den organisierten Stillstand? Vor Jahresfrist, als die Euphorie über den rot-grünen Wahlsieg noch nicht verklungen war, setzten Berliner SPD-Politiker hohe Erwartungen in Bundeskanzler Gerhard Schröders Ankunft in Berlin. Ein wenig von dem Glanz des Siegers, so die Hoffnung, würde auf sie fallen und den nicht gerade von Wahlerfolgen verwöhnten Berliner Sozialdemokraten die WählerInnen in die Arme treiben.

Das Trauma von 1995 – die Berliner Sozis sackten auf den historischen Tiefstand von 23,6 Prozent ab – ist längst nicht überwunden. Und auch die aktuellen Umfragewerte von rund 32 Prozent reichen für einen ersehnten rot-grünen Wechsel in der Hauptstadt nicht aus.

Die Große Koalition, die seit neun Jahren die Stadt verwaltet, gleicht einer zänkischen Ehe; die SPD ist des Zweckbündnisses schon lange überdrüssig. Doch nun, da die Bundesregierung für ihren Start nur Schimpf und Schande erntete, schwinden auch die Hoffnungen der Berliner.

CDU-Fraktionschef Landowsky, dem das heraufbeschworene Wechselszenario Sorge bereitet hatte, lehnt sich nun wieder entspannt zurück. Hingegen bemüht sich Momper, der 1989 schon einmal Regierungschef einer nach anderthalb Jahren gescheiterten rot-grünen Regierung in Berlin war, um eine optimistische Haltung: „Rot-Grün in Berlin erhält Aufwind durch die Bundesregierung.“ Gemeinsame Wahlkampfauftritte mit dem Bundeskanzler seien schon „fest verabredet“.

Ob mit oder ohne Rot-Grün im Abgeordnetenhaus – schöner wird es in Berlin auf jeden Fall werden. Das weiß Momper. „Das gesellschaftliche Leben der Stadt wird aufgewertet“, freut er sich. „Soviel internationalen Besuch hatten wir bei den Filmfestspielen schon lange nicht mehr.“

Berlin habe bis dato gar keine Gesellschaft, wird zuweilen bösartig behauptet. In den Premieren träfen sich allenfalls jene, die sich für die Berliner Gesellschaft hielten. Klaus Landowsky, der als Protagonist des alten Westberliner Inseldenkens gilt, kann das nicht wirklich bestreiten: „Wir haben in engen Gesellschaften und Eliten verkehrt.“ Doch seien diese immerhin durchlässiger als anderswo. Neuzugänge werden mit offenen Armen aufgenommen, lobte beispielsweise stets der aus Bonn zugezogene, frühere Innensenator Jörg Schönbohm (CDU).

Der Zuzug von Bundespolitikern, Verwaltungsbeamten und Mitarbeitern der Verbände wird „Tausende von neuen Leuten mit neuen Ideen“ in die Stadt bringen, prophezeit Landowsky. „Das wird eine Herausforderung für die alte Elite“, sagt er und spricht gar von einer „Bewährungsprobe“ für jeden.

Provinz trifft Prominenz? Klappernde Kanaldeckel hier, glänzende Weltbühne dort? Die Bonner Politiker und Ministerialbeamten seien „von einem ganz anderen Kaliber“, weiß jedenfalls der frühere Ostberliner Bundestagsabgeordnete Thomas Krüger (SPD) zu berichten. Auf die Berliner Politik und Verwaltung komme eine „positive Streßsitation“ zu. Der Qualitätsunterschied sei beträchtich. „Die Berliner Politiker müssen sich ihren Platz in dieser Konkurrenz erkämpfen“, sagt Landowsky. „Es wird nicht mehr jeder in der zweiten Reihe sitzen, sondern vielleicht in der sechsten Reihe.“ Aber auch die Bundestagsabgeordneten aus Bayern oder Friesland müßten sich ihren Platz in den gesellschaftlichen Kreisen der Hauptstadt erst „erobern“.

Mit dem Berliner Tanz ums eigene selbst wird es dann vorbei sein. Mit den Bonnern drängen Themen, Bedürfnisse und Perspektiven fremder Herkunft nach Berlin. Und die zu integrieren, löste bislang nicht nur Freude aus.

Der von Kanzler Schröder locker hingeworfene Satz, der Palast der Republik sei so monströs, daß ihm das – 1950 gesprengte – Stadtschloß dort lieber sei, schlug wie ein Blitz ein. Ein einziger Kanzlersatz, wunderten sich die Berliner, kann das Kräfteverhältnis in einer seit vier Jahren umstrittenen städtebaulichen Frage mit einem Schlag verändern. Die Befürworter des Wiederaufbaus des Schlosses waren entzückt über die unverhoffte Unterstützung von höchster Stelle. Doch dann erwies sich, daß auch ein Kanzlerwort so machtvoll nicht ist, solange Finanzierung und Nutzung unklar sind.

Doch nicht nur die Bonner Sozis, auch die Grünen funken ohne Rücksicht auf Berliner Debatten dazwischen. Außenminister Joschka Fischer drängte kürzlich darauf, für Diplomatenkinder in Berlin zusätzliche Gymnasialklassen ab der vierten Klasse einzurichten. Damit leistete Fischer – wohl ungewollt – im erbittert geführten Berliner Schulstreit der CDU Schützenhilfe. In der Hauptstadt entscheidet sich der Wechsel zu Gymnasium, Real- oder Hauptschule erst nach der sechsten Klasse der Grundschule – eine Besonderheit, die die CDU anläßlich des Regierungsumzugs am liebsten ganz abschaffen würde, die SPD und Grüne aber leidenschaftlich verteidigen.

Strittige Fragen gibt es reichlich. Manche sind banal wie die, ob die – für Berlin wichtige Durchgangsstraße – Dorotheenstraße gesperrt wird, damit die Bundestagsabgeordneten nicht vom Verkehrslärm behelligt werden. „Die Versuchung, die Stadt in Besitz zu nehmen, ist groß“, mahnt Krüger. „Da sollte sich Rot-Grün am gesunden Föderalismus der Bonner Republik orientieren.“

Auch in den Berliner Parteien wird es mit der Gemütlichkeit im Kreise altbekannter Gesichter vorbei sein. Momper wittert eine „Frischblutzufuhr“ durch den Umzug. „Die verharschten Strukturen in allen Parteien werden aufgebrochen“, vermutet auch Christdemokrat Landowsky.

Die Berliner Grünen rechnen mit einem Zuwachs von rund dreihundert Mitgliedern – bei 3.600 Mitgliedern macht dies knapp zehn Prozent aus. So erfreut man einerseits über den Zuwachs ist, so sehr treibt den Grünen-Vorstandssprecher Andreas Schulze auch eine Sorge um. Im Berliner Landesverband spielt die Flügelzugehörigkeit – Linke oder Realos – eine weitaus geringere Rolle als im Bundesverband. Auf einen Import der Bonner Spielregeln ist hier keiner scharf.

Auch in der SPD bleiben Kulturschocks nicht aus. So wechselte etwa der Bonner Bundeswehroberst der Reserve, Claus Jander, ausgerechnet in den traditionell linken SPD-Kreisverband Berlin-Kreuzberg, der ein recht distanziertes Verhältnis zum Militär pflegt. „Der Kreuzberger Kreisverband ist so bunt gemischt, daß auch ein Bundeswehroberst dazupaßt“, übt sich der Kreuzberger Kreisvorsitzende Andreas Matthae in Toleranz. Nun bewirbt sich der Oberst auch noch um ein Abgeordnetenmandat. Chancen werden ihm allerdings nicht eingeräumt.

Dorothee Winden, 37, ist Redakteurin für Landespolitik im Berliner Lokalteil der taz