Haile rennt

Der äthiopische Langstreckenläufer Haile Gebrselassie wird auch bei den kommenden Hallenweltmeisterschaften in Japan wieder nicht zu bremsen sein. Zu Hause wird der „rasende Zwerg“, dessen Lebensgeschichte nun verfilmt wurde, als Held der kleinen Leute verehrt. Wie aus dem Bauernjungen ein Weltrekordler wurde, berichten  ■ Silke Mertins und Heike Haarhoff

Die Schlange vor der Kasse des Cinema Ethiopia in Addis Abeba reicht bis zur nächsten Straßenecke. Verliebte Pärchen, Eltern mit zappelnden Kindern und Jugendliche in Turnschuhen drängeln erwartungsvoll zum Eingang. Den hütet ein uniformierter Türsteher. Mit einer Peitsche in der Hand scheint er fest entschlossen, es mit jedem aufzunehmen, der aus der Reihe tanzt.

Endlich geht es vorwärts. Für drei Birr (gesprochen: Brrrrrr), umgerechnet achtzig Pfennig, hält man schließlich eine Kinokarte in der Hand. „Haben Sie eine Pistole dabei?“ fragt das Sicherheitspersonal wie beiläufig, tastet jeden Besucher ab und durchsucht die Taschen. Man ist nervös in der Hauptstadt. Denn das gesamte Militär ist im Norden stationiert, wo Äthiopien den Streit mit dem Nachbarland Eritrea um ein Stück Ödland mit Waffengewalt zu lösen versucht.

Dann endlich ist der Weg frei zum Kinosaal. Das Licht geht aus. Auf der Leinwand erscheint Haile Gebrselassie, Olympiasieger über 10.000 Meter, Weltsportler des Jahres 1998 und – glaubt das US-Magazin Runner's World – einer der besten, wenn nicht der beste Langstreckenläufer, den es jemals gab. Kurzum: Haile Gebrselassie ist Äthiopiens unumstrittener Nationalheld, dessen Lebensgeschichte nun von Leslie Woodhead in „Endurance“, Ausdauer, verfilmt wurde.

Haile spielt sich selbst. Er sitzt vor den Feldern seiner Kindheit im äthiopischen Hochland Arsi, rund zweihundert Kilometer südlich der Hauptstadt Addis Abeba. „Mein Vater war ein harter Mann“, sagt er. „Er schlug uns oft.“ Und wenn er ganz ehrlich sei, so müsse er sagen: „Meine Mutter habe ich mehr geliebt.“ Schnitt.

In der Umkleidekabine des Olympiastadions in Atlanta schnürt Haile sich die blauen Adidasturnschuhe – man ahnt bereits, wer sein Sponsor ist – und schließt die Augen zu einem Gebet. Hinter ihm zu sehen: die Feinde – die kenianischen Läufer. Fast die gesamten zehn Kilometer wird der Äthiopier mit der Startnummer 1391 sich hinter den Konkurrenten aus dem Nachbarland halten und sie das Tempo vorgeben lassen.

Die deutlich hörbaren Atemzüge versetzen das Kinopublikum in Erregung. Als Haile auf dem letzten Streckenabschnitt zum Überholen ansetzt, klatschen die ersten Beifall. Die letzte Runde wird eingeläutet. Ein Schrillen wie damals bei der Schulglocke. Zehn Kilometer hatte er von der Farm seiner Eltern bis zur Schule zurückzulegen. Und Haile, nun als kleiner Junge auf der Leinwand, rennt. Auch damals versucht er sich mit einem Endspurt. Er will nicht wieder zu spät kommen. Der Lohn seiner vergeblichen Mühe waren Schläge auf die Hände. 1996 in Atlanta verhalf ihm das Mobilisieren der letzten Reserven hingegen zur Goldmedaille. Als er auf dem Treppchen steht, die äthiopische Nationalhymne ertönt und ihm, dem Sieger, die Tränen kommen, wird auch im Kinosaal bereits geschluchzt.

Denn Haile ist ein Held der kleinen Leute. Barfuß rennt er durchs Leben, bis er sechzehnjährig entdeckt wird. Er rennt zur Schule, auf die Felder, zum Wasserholen, zum Viehhüten. Er rennt zur Truhe seines Vaters, klaut die Batterien aus dessen Taschenlampe, rennt weg, um sie im hohen Gras ins Radio einzulegen und den Triumph seines Vorbildes Miruts Yifter bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau zu verfolgen. Da war er sieben Jahre alt.

Haile rennt, weil er es immer eilig hat. Essen muß zum Vater aufs Feld gebracht, der Acker gepflügt und Kanister müssen geschleppt werden. Nur am Abend sitzt er still. Und liest seiner Mutter und den Geschwistern beim Schein einer Öllampe Gleichnisse aus der Bibel vor. Zum Beispiel von der Frau, die ihren Glauben trotz Krankheit nicht verlor. „Siehst du“, sagt Hailes Mutter, „es ist gut, Gott zu vertrauen.“ Und das tut Haile – manchmal mehr als seinen Beinen. Technik, Training, Disziplin, all das ist wichtig. Doch der Glaube, sagt er, der aus einer Kultur mit einer zweitausendjährigen eigenständigen christlichen Tradition kommt, ist entscheidend.

Dennoch kann er es kaum verwinden, als seine Mutter auf dem Weg vom Fluß zur Farm an seiner Seite zusammenbricht und wenig später stirbt. Auch da rennt er wieder wie um sein Leben. Über Felder und Wiesen und Stock und Stein, der Trauer davon.

„Was soll das Gerenne?“ schimpft sein Vater. „Ich möchte, daß etwas Vernünftiges aus dir wird.“ Buchhalter zum Beispiel oder Rechtsanwalt. Doch Haile rennt vor den Zukunftsplänen seines Vaters fort, zu seinem Bruder nach Addis Abeba.

Dort erkennt ihn heute jedes Kind auf der Straße. Haile muß entweder weit raus aus der Stadt fahren, um unbehelligt laufen zu können, oder im Stadion sein Trainingsprogramm absolvieren. Letzteres ist Nationaltrainer Wolde Meskel Kostre am liebsten, denn dann hat er seinen berühmtesten Schützling immer im Auge. „Lauf, lauf, laaauuuuf!“ schreit der weißhaarige Coach, wenn Haile mit den anderen Läufern an ihm vorbeikommt.

Wolde sitzt auf einem Klappstuhl, die Krücken – „ich hatte einen Autounfall“ – an die Armstützen gelehnt. „Haile hat einen großen Vorteil: Er ist sehr diszipliniert, er weiß, was er will“, sagt er. „Beim Training hört für ihn der Spaß auf.“ Und das, klagt der Coach, fehlt anderen Talenten oft. „Die kommen einfach nicht zum Training“, schnaubt Wolde Meskel Kostre, „das ist ein Riesenproblem!“ Man müsse von den deutschen Athleten lernen, denn „die deutsche Disziplin ist eisern, die äthiopische aber lausig.“

Seit sieben Uhr morgens wird trainiert, jetzt ist es fast zehn. Die Sonnenstrahlen entwickeln langsam ihre stechende Unbarmherzigkeit. Haile kommt angelaufen. Mindestens zwanzig Stadionrunden hat er gedreht und ist nicht einmal außer Atem. Er kommt näher und wird nicht größer. Mit nur 1,64 gehört er nur von seinen Leistungen her zu den Größten.

Ein paar Lockerungsübungen noch, dann ist das Frühprogramm erledigt. Haile läßt sich auf den Rasen fallen. Wie wird er damit fertig, ein Nationalheld zu sein? „Ach“, sagt er und lacht, „es ist nicht schwieriger als laufen.“ Nur ein Privatleben hat er nicht mehr. Mit seiner Frau Alem und seiner neun Monate alten Tochter kann er sich nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen, wie das vor seinem Olympiasieg noch möglich war.

Im Film sieht man ihn noch verlegen mit Alem, damals seine Verlobte, im Café sitzen: Er spielt mit seiner Cola, sie rührt ebenso wortlos in ihrem Kaffee herum. Eine Szene zwischengeschlechtlicher Sprachhemmung, wie man sie hundertfach in äthiopischen Cafés beobachten kann. Daß er auch heute noch ungern erster Klasse fliegt und am liebsten die äthiopische Nationalspeise Injera – ein Mittelding zwischen Fladenbrot und Pfannkuchen – ißt, dafür lieben ihn die Äthiopier.

Besonders in seiner Heimatregion Arsi, aus der auch eine Reihe anderer hervorragender LäuferInnen stammt, wollen jetzt alle dem Helden nacheifern. „Jeder will laufen!“ weiß Nationaltrainer Wolde zu berichten. „Das Problem ist nur, daß wir nicht alle unterstützen, ihnen Trainingsschuhe und Sportkleidung geben können.“ Und dann die Tradition. „Die Mütter sagen mir: Was? Meine Tochter soll ohne Kleid laufen? Vergiß es!“ Ob äthiopisch- orthodox, katholisch oder muslimisch. „Immer dasselbe Problem“, klagt der talentsuchende Coach. Wenigstens habe er inzwischen die Frauenorganisationen auf seiner Seite. Und den materiellen Wohlstand, der den erfolgreichen LäuferInnen winkt.

„Jetzt kann ich mir alles leisten, führe ein bequemes Leben“, sagt Haile. Doch der „rasende Zwerg“, wie er in der Fachpresse genannt wird, häuft die errannten Dollars nicht nur auf dem eigenen Konto an. Zusammen mit seinem Sponsor hat der heute 25jährige den Verein „Global Adidas“ gegründet, um junge äthiopische Sportler zu fördern. „Die Talente leben auf dem Land, deshalb muß es auch Wettkämpfe in den Dörfern geben und nicht nur hier in Addis.“ Mit Land meint er das gebirgige, karge äthiopische Hochland, wo auch er aufgewachsen ist. Denn nirgendwo können sich die Lungen jungen SportlerInnen so gut entwickeln wie auf einer Höhe über 2.500 Metern. Die Höhenluft fördert die Bildung roter Blutkörperchen, die Transporteure des Sauerstoffs.

Auch zum Trainieren gibt es nichts Besseres“, sagt Haile. Und denkt deshalb auch nicht daran, Äthiopien zu verlassen wie sein Bruder Tekeye, der heute in den Niederlanden lebt. Und selbst der kommt zum Trainieren gerne nach Addis Abeba; an diesem Morgen hat er mit Haile seine Runden im Stadion gedreht. „Früher war ich mal besser als Haile“, sagt er. „Jetzt ist es immer ein Gag, wenn ich erzähle, daß ich vor sieben Jahren bei einem Marathon Zweiter wurde und er Neunundneunzigster.“

Trainer Wolde kann sich noch heute darüber ereifern, daß Haile schon mit sechzehn Jahren seinen ersten Marathon lief. „In dem Alter!“ grimmt er. „Das war nicht gut für ihn. Das Wachstum ist doch noch gar nicht abgeschlossen, und dann 42 Kilometer!“

Der Gescholtene räkelt sich derweil auf dem Stadionrasen. Längst denkt er wieder an die bevorstehenden Wettkämpfe und den Feind, also die Kenianer. Sein nächstes Ziel hat er klar vor Augen: die Olympischen Spiele 2000. „Ich möchte etwas Besonderes erreichen.“ Nicht nur die Goldmedaille will er gewinnen, sondern auch wieder einen Weltrekord brechen. „Wünscht mir Glück für Sydney.“

Silke Mertins, 34, ist Redakteurin im taz.mag und braucht für eine Strecke von 10.000 Metern deutlich länger als der elf Zentimeter kleinere Haile Gebrselassie

Heike Haarhoff, 29, ist taz-Korrespondentin für Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern und braucht für 10.000 Meter auf jeden Fall einen fahrbaren Untersatz