Mit den Blicken eines Insektenforschers

Den Deutschen fällt beim Thema Zuwanderung meist nur Dönerbude, Kriminalität und Kopftuch ein. Die Verwestlichung des Selbstbildes fällt schwer – den wohlmeinenden Eliten sogar schwerer als der scheinbar für Rassismus so anfälligen Unterschicht. Von dem Moped als Geschenk für den Millionsten „Gastarbeiter“ bis zum Immigranten als Symbol der „zweiten Moderne“ war es ein weiter Weg. Trotzdem haben sich keine Vorstellungen von Deutschland als Einwanderungsgesellschaft entwickelt – Teil V der Serie „50 Jahre neues Deutschland“ Von Mark Terkessidis

Weit ist die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in fünfzig Jahren gekommen auf ihrer Reise nach Westen. Ein zentraler Komplex allerdings, das zeigt sich in diesen Tagen wieder mit unangenehmer Deutlichkeit, erweist sich auf diesem Weg als Hindernis von monströser Behäbigkeit: der Umgang mit der Einwanderung.

Die Geschichte der Migration nach Deutschland paßt nur sehr eingeschränkt in die erbauliche Erzählung von ziviler Pluralisierung. Denn seitdem die ersten „Gastarbeiter“ mit dem Zug aus Verona auf dem Münchener Hauptbahnhof einrollten, verweigert sich die Bundesrepublik Deutschland jeder grundsätzlichen Öffnung. Seitdem wird beharrlich versucht, die Migranten auf diesem Bahnhof festzuhalten, sie nie endgültig in der Gesellschaft ankommen zu lassen.

Zweifellos kursieren heute positive Vorstellungen über die Bundesrepublik. Ein Bild von der Einwanderungsgesellschaft jedoch fehlt. Anders in unseren Nachbarländern. Auch wenn es sich um Mythen handelt, so sehen etwa die Franzosen in ihrer Fußballmannschaft die Assimilationskraft der Republik, die Briten in Literatur oder Popkultur ihren Grassrootsmultikulturalismus, die Niederländer im metropolitanen Durcheinander ihrer Städte die Toleranz. Und auch die Einwanderer besitzen dort mittlerweile eine kollektive Erinnerung ihrer eigenen politischen und kulturellen Partizipation.

Dagegen findet man hierzulande neben einigen eher blassen Phantasien vom Multikulturalismus, in denen die Migranten selbst zumeist keine tragende Rolle spielen, hauptsächlich Antibilder: Ghettos, Kriminelle, Kopftücher und dergleichen.

Auf der Suche nach einem populären positiven Bild für die deutsche Einwanderungsgesellschaft müßte man wohl zurück ins Jahr 1964, als der Portugiese Armando Sa Rodrigues als millionster Gastarbeiter ein Moped geschenkt bekam. Die Geste wiederholte sich 1969, als noch eine Million erreicht war und dem Türken Ismail Babader ein Fernseher überreicht wurde.

Aber selbstverständlich sprechen diese Bilder nicht von Einwanderung, sondern nur von „Gastfreundschaft“. Und zudem noch von ihrer eher schalen Seite, denn dem sprachlosen Rodridues schenkte man ein Moped, als die Deutschen schon massenhaft aufs Auto umsattelten. Obendrein kehrte er später nach Portugal zurück und starb dort bereits 1981 an den Folgen eines Arbeitsunfalls in Süddeutschland.

Daß Ausländer sich in Deutschland aufhielten, um zu arbeiten, war bereits seit dem Kaiserreich der Regelfall. Unter den Nazis wurden die Menschen sogar in großem Ausmaß zur Arbeitsmigration gezwungen: Im Sommer 1944 waren im monumentalen Zwangsarbeitersystem des „Dritten Reiches“ fast acht Millionen Ausländer beschäftigt. Als diese ein Jahr später aus den Barackenlagern auszogen, kamen neue Fremde. Zunächst „Displaced Persons“ auf der Durchreise, dann die Vertriebenen.

Daß nach dem Anwerbevertrag mit Italien am 22. Dezember 1955 auch ein paar junge italienische Männer dort wohnten, fiel zunächst nicht weiter auf. Die Anzahl der Zuwanderer blieb in den fünfziger Jahren aber gering. Die Regierung bemühte sich derweil um gesetzliche Grundlagen und setzte dabei einfach die Aufenthaltsregelungen für ausländische Arbeitnehmer von 1933 und die Polizeiverordnung von 1938 wieder in Kraft.

Eine massenhafte Arbeitsmigration setzte erst ein, als nach dem Bau der Mauer 1961 die Flüchtlinge aus der DDR ausblieben. Ab 1960 wurden Anwerbeverträge abgeschlossen. Die jungen Männer wurden zunächst richtiggehend vermessen und erhielten dann einen befristeten Vertrag. Gewohnt wurde gleich neben der Fabrik im „Gastarbeiterlager“. Dort sollten eigentlich jeder Person mindestens sechs Quadratmeter zustehen, aber diese Mindestanforderung wurde oft unterschritten.

Solche Bedingungen wollten viele dann selbst angesichts hoher Löhne nicht auf sich nehmen: Bei VW in Wolfsburg kündigten fünfundsechzig Prozent der italienischen Migranten vor Ablauf ihres Vertrages. Fast zwanzig Prozent machten sich sogar in den ersten Tagen oder Wochen aus dem Staub.

Bis 1969 blieben die Italiener die größte Gruppe, und so prägten sie in den ersten Jahren das Bild des Einwanderers. Sicher fühlten die Einheimischen sich überlegen und sprachen schlecht von ihnen – auch immer noch in bezug auf den „Verrat“ während des Krieges –, aber gleichzeitig spukten sie als exotisch-erotische Phantasie durch das allgemeine Bewußtsein. Schließlich war Italien spätestens mit dem Schlager „Capri- Fischer“ zum deutschen Erholungstraum avanciert. Die Jugend traf sich in der italienischen Eisdiele, und die Erwachsenen liebten es, Chiantiflaschen zu Kerzenständern zu verarbeiten. Und schließlich konnte man sich dank wachsenden Wohlstands sogar die Reise nach Italien leisten. Andauernde private Kontakte zwischen Einheimischen und „Gastarbeitern“ blieben allerdings selten.

Zur Drehscheibe wurde der Bahnhof: Die einen trafen ein, um zu arbeiten, die anderen fuhren in die umgekehrte Richtung, um auszuspannen.

Während die „Gastarbeiter“ das untere Segment des Arbeitsmarktes abdeckten, stiegen die Eingeborenen in die besseren Jobs auf. Noch bis 1966 galten die „Gastarbeiter“ daher als Symbol eines neuen Reichtums. Die erste Nachkriegsrezession allerdings brachte wieder offenen Rassismus mit sich. Damals spielte sich jenes Theaterstück ein, das seitdem bei jeder Wirtschaftskrise aufgeführt wird: Die Politik zeigt sich besorgt über das „Ausländerproblem“, negative Berichte über Migranten häufen sich, rechtsradikale Parteien erstarken, die Politik reagiert mit symbolischen Maßnahmen zur Eindämmung der Zuwanderung, und die Wirtschaft appelliert mit Blick auf den eigenen Geldbeutel und das Image im Ausland an Taktgefühl und „Gastfreundschaft“.

Etwa zur gleichen Zeit entdeckten die Linken den „Gastarbeiter“ im „Arbeiterlager“ als besonders geeigneten Gegenstand der Kapitalismuskritik, und so erhielten die Ausländer für mindestens zehn Jahre einen prominenten Platz in Sozialreportagen und Romanen. Manchmal profitierte die linksalternative Szene aber auch in ganz unerwarteter Weise von der Anwesenheit der „Gastarbeiter“. In Köln etwa konnte das erste Undergroundkino nur dadurch finanziert werden, daß man am Wochenende für ausländische Männer Produktionen aus Dänemark zeigte.

Letztlich war „68“ auch die Stunde der Exilanten: In der Bewegung fanden sich eine ganze Reihe Zuwanderer. Und aus internationaler Solidarität hingen die Studenten nach der Demo gegen Springer auch gerne noch eine gegen die Junta vor der griechischen Botschaft dran.

Die siebziger Jahre gelten allgemein als Periode der Familienzusammenführung. Nach der Ölkrise erließ die Regierung 1973 zwar den berüchtigten Anwerbestop, aber der beabsichtigte Effekt sollte sich nicht mehr einstellen: Die Ausländer – mittlerweile waren Türken die größte Gruppe – wurden langfristig nicht weniger, sondern mehr.

Die Behörden entwickelten halbgare Konzepte wie „Integration“, um zu vertuschen, daß die Einwanderungspolitik wenig mehr war als eine planlose Anhäufung undurchsichtiger Maßnahmen. Unter den „Gastarbeitern“, die sich de facto bereits angesiedelt hatten, gab es nun zum ersten Mal Arbeitslosigkeit. Auf der Suche nach Verdienstmöglichkeiten machten sich viele selbständig. Gaststätten mit Urlaubsflair – zwischen Heimatkitsch und Plakaten der Tourismusbehörden – vermehrten sich explosionsartig. Und auch im Fastfood tauchten neben der Pizza die gängigen Mutationen „südländischer“ Gerichte auf: Gyros, Döner und so weiter.

In den Achtzigern setzte sich der Ansiedlungsprozeß fort. Auf dem Weg zu einer zivilen Nation war es jedoch ein verlorenes Jahrzehnt: Die Chance auf Anerkennung der endgültigen Niederlassung und den Bruch mit dem völkischen Staatsverständnis wurde vertan. Unter Umständen hat sich auch deswegen 1989 als Zäsur erwiesen. Denn während 1961 der Bau der Mauer die Ausländerbeschäftigung forcierte, brachte ihr Fall aufgrund der nun verfügbaren Arbeitskräfte aus dem Osten Entlassungen mit sich.

Die Bürger der Ex-DDR wiederum, die in wirtschaftlich besseren Tagen selbst Arbeitsmigranten aus Brüdernationen wie Vietnam, Mosambik oder Kuba ins Barackenlager eingewiesen hatten, kamen sich nun selbst wie Einwanderer vor. Diese Stimmung traf auf die im Westen seit Mitte der Achtziger geschürte Hetze gegen Asylbewerber, und das Ergebnis waren 1992 Pogrome und Brandanschläge: Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen.

Heute, kurz vor der Jahrtausendwende, nehmen die Migranten nun ganz ungewollt eine seltsame Avantgardefunktion ein. Denn sie sind im positiven wie im negativen ein kulturelles Symbol für die „zweite Moderne“ (Ulrich Beck) geworden. Zum einen avancierte das „Treiben zwischen den Kulturen“, das Leben im „Zwischenreich“ zur begehrten Lebensweise der Postmoderne. Zum anderen hat die neue Einwanderung des letzten Jahrzehnts, das durch Informalisierung und Illegalisierung gekennzeichnet war, den Migranten zum allgemeinen Angstphantasma werden lassen. Nicht umsonst ging es bei fast allen Maßnahmen im Dienste der inneren Sicherheit zunächst um „Ausländer“ – etwa beim sogenannten Großen Lauschangriff.

Trotz des gesetzlichen Chaos und der generellen Abwehr haben sich die Migranten aus eigenem Antrieb „integriert“. Auf der Alltagsebene ist die Segregation allerdings größer als in allen anderen europäischen Ländern, wenn auch gerade die Einheimischen der unteren Schichten, die zumeist als besonders anfällig für Rassismus gelten, mittlerweile die verschiedensten Formen des Zusammenlebens eingeübt haben. Oftmals sind es gerade die Eliten, die jenen unbeteiligten und verständnislosen Blick des Insektenforschers kultivieren, der das Leben für viele Migranten zuweilen so unangenehm werden läßt.

Noch immer fällt es vielen schwer zu begreifen, warum ohne rechtliche Voraussetzungen die willkommene Vermehrung der eigenen multikulturellen Lebensstiloptionen noch lange nichts mit Pluralität zu tun hat. Das Demokratiedefizit ist beim Thema Einwanderung weiterhin immens. Nach Westen ist es noch ziemlich weit.

Mark Terkessidis, 32, ist Psychologe und lebt als freier Autor in Köln. Schwerpunkte: Migration und Popkultur. Zuletzt erschien von ihm: „Psychologie des Rassismus“, Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1998, 54 Mark