Kampf der linken Melancholie

Am 23. Februar wäre Erich Kästner hundert Jahre alt geworden. In seinen Kinderbüchern schrieb er sich eine Traumwelt zurecht, wie er sie sich für die Wirklichkeit wünschte. Doch Kästner war nicht nur der Autor rührender Jugendgeschichten wie „Das doppelte Lottchen“ oder „Emil und die Detektive“. Er war auch ein engagierter Journalist, schrieb radikale Gedichte, mitreißende Chansons, Drehbücher und politische Theaterstücke. Sein ganzes Leben war ein unermüdlicher Kampf für die Kinder und gegen die Ugerechtigkeiten der Welt, gegen Nationalismus und Militarismus – aber auch gegen die eigene Verzagtheit und Melancholie  ■ Von Volker Weidermann

Zwei, drei Jahre lang hielt er es für möglich, daß die Welt doch besser werden und er etwas dazu beitragen könne. Als die Niederlage des alten Deutschland vollkommen war, glaubte er an das ganz Neue, an ein neues Land, an neue Menschen.

1945 war Erich Kästners ganz persönliche Stunde Null. Jetzt sollte für ihn, der die Nazizeit in Deutschland verbracht hatte, die „moralisch gute Zeit“ kommen, die die Emigranten draußen, im freundlichen Ausland, in den letzten zwölf Jahren für sich reklamiert hatten. Kästner hatte zur Nazidiktatur geschwiegen, hatte einige heitere Bändchen wie die „Drei Männer im Schnee“ geschrieben – und seine heimlichen Alltagsproteste in ein kleines blaues Octavheftchen gekritzelt. Zu Beginn des Hitlerregimes durfte er seine Bücher noch im Ausland publizieren. Doch die meiste Zeit war er ein verbotener Autor gewesen, ein Schriftsteller ohne Leser.

Da hatten sich Energien aufgestaut, die auch einen Mann, dem schon in der Weimarer Republik von politisch engagierter Seite tatenlose Melancholie und Defätismus vorgeworfen worden waren, zum hoffnungsfrohen Neuaufbauer machten. In München, wohin es ihn nach dem Kriege verschlagen hatte, begann er sich für die unterschiedlichsten Projekte zu engagieren: Er wurde Feuilletonchef der von den Amerikanern in Millionenauflage herausgegebenen Neuen Zeitung, er gründete die Jugendzeitschrift Pinguin, war Mitinitiator und Haupttexter des Kabaretts „Schaubude“ und machte sich daran, die kämpferischsten Texte seiner dichterischen Vergangenheit neu herauszugeben. „Wir arbeiten Tag und Nacht“, schrieb Kästner 1948 rückblickend. „Es geht zu wie bei der Erschaffung der Welt. Besprechungen in Stuttgart wegen der Gründung einer Jugendzeitschrift. Wegen des Neudrucks von im Jahre 1933 verbrannten Büchern. In der Reitmorstraße wächst die ,Schaubude' Stein um Stein. Auf geht's!“

Es waren Jahre eines politischen, moralischen und intellektuellen Vakuums. Die Emigranten kehrten nur zögerlich nach Deutschland zurück, die meisten Schriftsteller, die zur Nazizeit in Deutschland geblieben waren, hatten sich durch willfährige Kompromisse mit den Machthabern diskreditiert. Kästner galt als einer der wenigen integren Vertreter der sogenannten Inneren Emigration und konnte nun schrankenlos wirken. Vor allem die Texte für die „Schaubude“ trafen den Nerv der Zeit. Ursula Herking, für die er eines seiner ersten Nachkriegschansons, „Marschlied 1945“, geschrieben hatte, berichtet in ihren Memoiren von der ersten Aufführung jenes Liedes: „Als ich den letzten Ton gesungen hatte, sprangen die Menschen von den Sitzen auf, umarmten sich, schrien, manche weinten, eine kaum glaubliche Erlösung hatte da stattgefunden.“

Erich Kästner war der erste König der deutschen Nachkriegsliteratur. Der Beschreiber des Glücks, überlebt zu haben, der Hoffnung auf ein völlig neues Land. Er sprach von „Wir“, wenn er die Mehrheit der Deutschen meinte, und von „diesen Männern“, wenn er die Machthaber beschrieb. Er blickte nicht zurück, sondern nur voraus. Er hatte die Schrecken des Kriegs und der Nazizeit in Deutschland miterlebt, nicht wie die Exilanten, denen man jetzt vorwarf, die Jahre „von den Logenplätzen der Emigration“ aus angesehen zu haben, und die nun über die Dagebliebenen moralisch zu Gericht saßen.

Doch der Sieg über Nazitum und Unmenschlichkeit war nicht so total, wie Kästner sich ihn vorgestellt hatte. „Diese Männer“ hatten wieselflink ihre angestammten Plätze an den Schaltstellen der Macht wieder eingenommen. Kästner hatte vor lauter Zukunftsbegeisterung den Blick zurück vergessen. „Wir staunten nicht schlecht“, schrieb er 1952. „Wir waren in der Zwischenzeit an die Vergangenheit verkauft worden.“ Und dichtete resignierende Zeilen wie: „Bete, wer kann! Er ist zu beneiden. / Kriege lassen sich nicht vermeiden. / Der Mensch muß leiden. Er kann nichts tun.“

Dieser Grundton war alten Kästner-Lesern schon bekannt. Sie kannten ihn seit Mitte der zwanziger Jahre, als Kästner als Dichter, Journalist, Roman- und Drehbuchautor an die Öffentlichkeit trat. Von Beginn an war das Grunddilemma von Erich Kästners Leben und Schaffen dies: das existentielle Mitleiden am Unglück der Menschen, an der schlechten Einrichtung der Welt, das sich mit einer völligen Illusionslosigkeit verband, daran Fundamentales ändern zu können. Politische Strategien lehnte er ab. Nicht das System war für Kästner das Problem, sondern der Mensch. „Was nützt das göttlichste System, wenn der Mensch ein Schwein ist?“ läßt er in seinem Roman „Fabian“ fragen.

Erich Kästner war ein linker Antipolitiker, ein Feind der Parteien, ein Feind der Revolution. Er glaubte nicht, daß die Armen bessere Menschen würden, wenn sie reich wären, daß der einzelne, wenn er in der Gruppe auftritt, menschlicher würde. Das idealistische Pathos der Sozialisten war ihm zuwider. Er war der Mann der kleinen Tat statt des großen Wortes. Sein kategorischer Imperativ lautete: „Es gibt nichts Gutes / außer: Man tut es.“

Die Gedichte, die er schrieb und mit denen er zu einem Star des Literaturbetriebs der Weimarer Republik wurde, nannte er „Gebrauchslyrik“, Verse, die vor allem „seelisch verwendbar“ sein müßten. Kästner gab zu, daß auch noch der nützlichste Lyriker nie so notwenig sein werde wie etwa ein Bäcker oder ein Zahnarzt. Aber „gleich nach den Handwerkern“ immerhin wollte er rangieren.

Kästner wollte Volksschriftsteller sein und Verse schreiben, „bei denen auch der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt“. Er schrieb einfach und klar, seine Gedichte waren meist melancholisch und moralisch, sie waren antimilitaristisch und antinationalistisch. Und oft waren sie verzweifelt und desillusioniert. Dann sprach er von den Menschen als „Hautkrankheit des Erdenballs“, spottete über Leute, die sich einreden, sie pflanzten sich fort, um den Kindern damit eine Freude zu machen, und empfahl den raschen Selbstmord als Erlösung von allem Bösen. Diese Haltung rief erbitterte Kritiker auf den Plan. Für die politische Rechte war Kästner einer der Hauptfeinde im Literaturkampf der Weimarer Republik: Schmierfink, Landesverräter, Pornograph und ähnliche Geschütze wurden gegen Kästner in Stellung gebracht – der manches Mal auf Druck seines Verlages bereit war, allzu antinationale oder freizügige Passagen aus seinen Büchern streichen zu lassen.

Auch von links wurde scharf geschossen. Am wirkungsmächtigsten blieb die berühmte, „Linke Melancholie“ überschriebene, Kritik Walter Benjamins: „Dieser linke Radikalismus ist genau diejenige Haltung, der überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht“, schrieb Benjamin 1931, denn sie ergebe sich in die scheinbare Aussichtslosigkeit der Weltlage und habe im Grunde von vornherein nichts anderes im Auge, als „in negativistischer Ruhe sich selbst zu genießen“. Im Resultat sei diese Art von Literatur konservativ und kleinbürgerlich.

„Freilich, ich bin ein Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort“, läßt Kästner im selben Jahr sein Alter ego Fabian in dem gleichnamigen Roman auf ähnliche Vorwürfe eines Sozialisten antworten. „Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe. Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschheit im Verborgenen sitzen und weiterweinen.“ Das war Kästners Verteidigung. Die Verteidigung seiner wissenden Melancholie.

„Fabian“, 1931 erschienen, war Kästners ehrgeizigstes Projekt und wohl auch sein größter Roman. Es ist ein Berlinroman, ein Vorkriegsroman, ein Roman, der eine Welt am Abgrund zeigt und einen kleinen unbedeutenden Helden und Werbetexter beschreibt, der ziellos durch dieses Inferno stapft, nicht weiß, wo er sich engagieren soll, alles aussichtslos findet und schließlich in einem verzweifelten Akt zwischen Selbstmord und der Sehnsucht nach der einen großen Heldentat von einer Brücke springt, um ein schreiendes Kind aus dem Fluß zu retten. Doch Fabian ist Nichtschwimmer und ertrinkt. Kritiker haben in dem Roman immer vor allem die klare Weltsicht gelobt, die den alles verschlingenden Rachen „Drittes Reich“ schon 1931 gähnen sah. Doch „Fabian“ ist in erster Linie eine Beschreibung von Kästners Lebensdilemma: die Welt am Abgrund sehen, ohne eine leise Idee, wie man das Unglück abwenden kann.

Für die Welt fand Kästner keinen Ausweg. Aber für sich persönlich, für seine Arbeit und vielleicht auch, wie er hoffte, für die Zukunft der Menschen. Er schuf sich einfach eine neue Welt – die Kinderwelt seiner Jugendbücher. Sie bilden die zweite, der ersten diametral entgegengesetzte Seite seines Schaffens. Daß derselbe Kästner, der in seinen Gedichten die Abschaffung der Menschheit als Lösung der Weltprobleme propagierte, auf der anderen Seite so anrührende und harmoniefreudige Kinderbücher wie „Pünktchen und Anton“, „Das fliegende Klassenzimmer“ und „Das doppelte Lottchen“ schreiben konnte, ist der erstaunlichste Aspekt dieses großen Werkes. Seine Kinderbücher haben ihn populär, ja zu einem Weltstar der deutschen Literatur gemacht. Sie sind in Millionenauflage erschienen, in vierzig Sprachen auf der ganzen Welt.

In Kästners Kinderbüchern wird am Ende alles gut. Die kleinen Helden stehen zwar in einer unwirtlichen Welt, doch wissen sie, anders als Fabian, sich zu wehren. Sie sind pfiffig und vorurteilsfrei, haben Freunde und clevere Strategien, sie sind kameradschaftlich und gerecht und unnachgiebig, wenn es gilt, das Gute zu verteidigen oder einen anderen kleinen Menschen.

Es gibt wunderbare Aufnahmen von Lesungen Erich Kästners, auf denen er aus seinen Kinderbüchern liest. Doch eigentlich liest er nicht. Er erzählt mit seiner eindringlich dunklen, weich sächselnden Stimme anekdotisch dies und das, entfernt sich weit von der eigentlichen Handlung und kommentiert sich selbst: „Also ich muß sagen, der Direktor gefällt mir immer besser.“ Manche meinen, daß wer als Kind Kästner das Schlußwort zu „Pünktchen und Anton“ lesen hörte, später vielleicht kein ganz schlechter Mensch werden kann. Da heißt es am Ende, nachdem also alles wunderbar ausgegangen ist: „Nun könntet ihr womöglich daraus schließen, daß es auch im Leben immer so gerecht zuginge wie in unserem Buch hier! Das wäre allerdings ein verhängnisvoller Irrtum! Es sollte so sein, und alle verständigen Menschen geben sich Mühe, daß es so wird. Aber es ist nicht so. Es ist noch nicht so.“

Das Gegenteil dieser schönen Welt sollte kurze Zeit später Wirklichkeit werden: Am 10. Mai 1933 brannten auf dem Berliner Opernplatz auch die Bücher Erich Kästners, und er stand dabei und sah zu. Fast alle Schriftsteller, deren Werke hier brannten, waren längst ins sichere Ausland geflohen. Kästner war noch da. Und Kästner blieb.

„Warum sind Sie geblieben, Herr Kästner?“ Kaum eine Frage ist dem Dichter in seinem Leben wohl öfter gestellt worden. Und was antwortete er? „Aus Chronistenpflicht.“ Die Emigranten warfen ihm Opportunismus vor. „Das war doch einmal ein Schriftsteller“, schrieb Klaus Mann aus dem Pariser Exil, als er eine Anzeige von Kästners neuem Buch „Drei Männer im Schnee“ gelesen hatte. Wer 1934 Erheiterungsliteratur schrieb, wurde, sicher mit einigem Recht, von den Auslandsdeutschen aus dem Kanon der Schriftsteller gestrichen.

Doch auch in den anderen, den offiziellen Nazikanon war Erich Kästner nicht aufgenommen worden. Das Kapitel „Kästner und das Dritte Reich“ ist widersprüchlich und wird wohl nie vollständig aufgeklärt werden. Die offizielle Seite schwankte, ob sie ihn nicht doch für sich gewinnen konnte, bot Kästner an, eine Anti-Emigranten-Zeitschrift in der Schweiz zu gründen, ließ ihn seine Bücher zunächst noch aus der Schweiz nach Deutschland importieren und gab ihm sogar noch 1941 den Auftrag, mit „Münchhausen“ das Drehbuch für den Ufa-Glanzfilm schlechthin zu schreiben. Doch zwischendurch gab es immer wieder Verhaftungen, Verhöre und Gutachten von der Reichsschrifttumskammer, die ihm bescheinigten, Verse geschrieben zu haben, die zu dem Zersetzendsten gehörten, was die deutsche Literatur je hervorgebracht habe, und daß er froh sein könne, durch Zufall dem KZ bislang entkommen zu sein. 1942 machte eine offizielle Anweisung Hitlers an Goebbels dem Hin und Her ein Ende: Kästner sei ab sofort nicht mehr zu beschäftigen. Der Münchhausen- Film kam auf die Leinwand, ohne daß auch nur Kästners Pseudonym erwähnt worden wäre.

Wer nach dem Kriege von Kästner die Lebensgeschichte und die Beobachtungen eines verbotenen Schriftstellers im Dritten Reich erwartete, wurde enttäuscht. Seiner Chronistenpflicht kam er nur ungenügend nach. Das Tagebuch, das er 1961 unter dem Titel „Notabene 45“ über das letzte halbe Kriegsjahr, das er mit einem Kamerateam in Tirol verbrachte, veröffentlichte, ist nur von geringem dokumentarischen Wert.

Erich Kästner hat in der Nachkriegszeit in Artikeln, Reden und Theaterstücken immer wieder darauf hingewiesen, daß wirksamer Widerstand im Dritten Reich unmöglich gewesen sei, daß man lange Zeit vor der Machtübernahme hätte handeln müssen. „Widerstand ist eine Sache des Terminkalenders, nicht des Heroismus“, war das Motto seines politischen Engagements in der Bundesrepublik. Denn Kästner war, trotz aller Ernüchterung, immerhin ein engagierter Oppositionspolitiker und Demonstrationsredner geworden. Er redete und schrieb gegen die Wiederbewaffnung, die Verjährung von Naziverbrechen und die Atomrüstung. Doch er kämpfte immer mehr aus schlechtem Gewissen ob seiner früheren Verzagtheit, als daß er an eine Wirkung seiner Reden geglaubt hätte. Hier kämpfte er eher mit sich selbst als mit den politischen Gegnern. Seine Hauptfeinde waren Hoffnungslosigkeit, „Trägheit des Herzens“ und Resignation.

Es gibt ein Buch von Erich Kästner, in dem er seine kindliche Wunschwelt mit der Politik versöhnte. Hier, in der „Konferenz der Tiere“, ließ er sein Kampfmotto: „Es gibt keine Trägheit des Herzens mehr“ sogar vertraglich festschreiben. Die Tiere haben, nach der soundsovielten erfolglos abgebrochenen Weltverbesserungskonferenz der Menschen, für ein paar Tage die Macht übernommen, um das Nötige ein für allemal auf den Weg zu bringen: Ein „ewiger Friedensvertrag“ wird verabschiedet, der alle Ländergrenzen, das Militär und die „Mordswissenschaften“ abschafft, die Zahl der Büros auf ein Minimum reduziert und Lehrer zu den bestbezahlten Beamten macht. Denn die Erziehung der Kinder zu „wahren Menschen“ ist die höchste Aufgabe der Welt. „Und nun gab es kein Hüben und Drüben mehr, und alle schüttelten einander die Hände.“ Kästners schöne Traumfabrik.

Doch gegen Ende seines Lebens gelingen ihm auch diese kleinen Fluchten in sein glückliches Kinderreich nicht mehr. Er grollt: Was immer er zu schreiben beginne, es ende doch jedes Mal nur ausweglos traurig. Da er in späten Jahren jedoch nur noch Happy-Ends ertrug, stellte er bald gar nichts mehr fertig. Er arbeitete noch fleißig, „um nicht zu verzweifeln“, wie er schrieb, aber die letzten Jahre verdämmerte er in einem traurigen Altersrausch. Das Teeglas mit Whisky kam ohne Bestellung an seinen Kaffeehaustisch. Der Speiseröhrenkrebs, an dem er erkrankte, blieb lange unbemerkt. Und eine Behandlung lehnte er ab. Erich Kästner starb, sechs Tage nach seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag, am 29. Juli 1974.

Volker Weidermann, 29, ist taz-Kulturredakteur