„Jekyll & Hyde“ oder: Wie ein kranker Mann den Besucher vom Abscheu gegen die leichte Muse kuriert

Es folgt ein Bekenntnis: Musicalhasser müssen nicht für immer Musicalhasser bleiben. Denn der Haß auf Musicals ist heilbar. Er kann sogar umschlagen in sein Gegenteil: In Begeisterung und in die minutenlang ernsthaft vertretene Absicht, einen Fanclub zu gründen und sämtliche Ersparnisse dafür aufzubringen. „Jekyll & Hyde“, das neue Grusical am Bremer Richtweg, macht's möglich. Und das geht so:

Besorgen Sie sich die „Jekyll & Hyde“-CD (im englischsprachigen Original oder bald auch in der deutschen Fassung) und hören Sie sie am Anfang einmal täglich, dann nur noch alle zwei Wochen und schließlich drei Monate lang gar nicht mehr. In der Zwischenzeit besuchen Sie jedes Musical – am besten auch die US-Fassung von „Jekyll & Hyde“ am New Yorker Broadway. Schlendern Sie offenen Auges durchs öffentliche Leben, das mit einem Etat von acht Millionen Mark in Norddeutschland flächendeckend und zungenförmig auch ins Ruhrgebiet hineinragend mit schwarz-roter Werbung für „Jekyll & Hyde“ beklebt ist. Besorgen Sie sich jetzt Karten für „Jekyll & Hyde“, denn unter diesen Voraussetzungen wirkt die als Europapremiere gezeigte Bremer Fassung geradezu wie eine Offenbarung.

Vor „Jekyll & Hyde“ waren Musicals nämlich fast alle furchtbar. Das Romantische war Schwulst, das Tragische Kitsch, die Musik klang fast immer wie Sauce, die Ensembles konnten entweder nicht richtig singen, tanzen oder schauspielen, und die Inszenierungen beschränkten sich auf ein Prospekt-hoch-und-runter-Schema, das in Pseudohöhepunkten wie einem einschwebenden Helikopter gipfelte. Das sah auch der „Jekyll & Hyde“-Regisseur Dietrich Hilsdorf so: „Ich“, sagte er beim Presse-Preview am Donnerstag abend (und Herr Hilsdorf sagt gerne „ich“): „Ich habe 80 Stücke inszeniert. Darunter waren zwei Musicals, und ich mochte sie nicht.“ Doch auch der als Stadttheater-Abonnentenschreck geltende Hilsdorf ist bekehrt. An seiner dritten Musical-Inszenierung, für die er seit Ende Oktober in Bremen ist, hätte er gern noch ein paar Wochen weiter gearbeitet – so viel Spaß hat es ihm gemacht, (das Ensemble zu tyrannisieren und) in seiner ersten kommerziellen Produktion „mal richtig auf die Kacke zu hauen“. Und Hilsdorf und sein Bühnenbildner Johannes Leiacker hauen in dieser 20 Millionen Mark teuren Produktion tatsächlich auf die Kacke.

Schon die beethovenhafte Eröffnungsfanfare drückt den gerade das Licht der Welt erblickenden Musicalfan in einen der 1.500 roten Sessel, mit denen das neue Theater am Richtweg im steil ansteigenden Parkett und den beiden Rängen bestuhlt ist. Ein kopfförmiges Loch öffnet sich für den Prolog, der Henry Jekyll am Sterbebett seines Vaters zeigt. Der Wissenschaftler, der am Fin de Siècle das Böse in sich erst freisetzen und dann bekämpfen will, ist psychologisch von Anfang an genau gestaltet: In Besessenheit und Fortschrittsglauben trägt dieser von Ethan Freeman hervorragend gespielte Jekyll den Hyde schon in sich, noch ehe er das Elixier schluckt. Auch nach dem verhängsnisvollen Selbstversuch gibt es keine plumpe Trennung zwischen Gut und Böse. Hyde und Jekyll sind zwei Seiten derselben Seele. Stellvertretend für Jekyll nimmt der Mörder Hyde Rache an der bigotten Bourgeoisie, die dem Wissenschaftler jede Unterstützung verwehrt.

Dietrich Hilsdorfs Bühnenbildner Johannes Leiacker hat für dieses Schauspiel ein so aufwendiges wie kongeniales Szenario aus naturalistischen und phantastischen Räumen entworfen. In schwebendem Wechsel verwandelt sich die Guckkastenbühne am Richtweg vom mondänen Salon ins dunkle Elendsviertel und zurück. Der optische Höhepunkt in dieser bildersatten, mit Anspielungen auf David Lynchs „Elefantenmensch“ oder Meatloafs Auftritt in der „Rocky Horror Picture Show“ garnierten Inszenierung ist aber Jekylls Labor: Ein sich scheinbar endlos nach hinten erstreckender Raum aus Gittern, der im temporeicheren zweiten Akt zum Schauplatz einer opulenten Lichtshow wird.

Der „Jekyll & Hyde“-Autor Leslie Bricusse fand es „amazing different“, was die Deutschen aus seiner Fassung der rund hundert Jahre alten Stevenson-Vorlage gemacht haben, in der sich das „Jekyll & Hyde“-Motiv in zwei Frauengestalten – der Bürgerstochter Lisa (Susanne Dengler) und der herzensguten Hure Lucy (Lyn Liechty) – spiegelt. Während die Inszenierung in New York geradezu bieder daherkommt, empfindet Bricusse als „visuellen Kulturschock“, wie Leiacker und Hilsdorf aus dem Vollen schöpfen. Ausdrucksstark choreographierte Ensembleszenen, ein gut disponiertes Live-Orchester und die vor allem in den drei Hauptrollen exzellenten SolistInnen bescheren dem entsprechend der Anleitung vorbereiteten Theatergänger auch in Sachen Musik das Gänsehautgefühl: Es ist schön, diese Songs in Bremen zu hören. Endlich!

Christopher K. Jekyll

P.S.: Die Darstellerin der braven, in dieser Inszenierung ganz selbstbewußten Lisa, Susanne Dengler, erzählt nach zwei Gläsern Sekt bestimmt schmutzigere Witze als Lyn „die herzensgute Hure Lucy“ Liechty.

P.S. 2: Songzeilen wie „Angst darf nicht mehr sein/Ich muß ins Wagnis rein“ verleihen dem Musical eine komische Note.

P.S. 3: Das neue Theater am Richtweg ist nur für elektronisch verstärkte Musik geeignet und wird deshalb nie Opernhaus.