■ Bisher fehlt der rot-grünen Koalition ein alternatives Modell für Wirtschaft, Arbeits- und Lebenswelt. Eine Chance für die Grünen?
: Weniger Schröder, mehr Politik, bitte!

Macchiavelli wollte die Grausamkeiten am Anfang, Rot-Grün die Fehler. Nun sind auch über hundert Tage keine Zeit für eine Bilanz. Aber woher die Hoffnung, daß diese Regierung am Ende ihrer Tage besser dasteht als an ihrem Anfang?

Tatsächlich hat die rot-grüne Koalition richtige Dinge falsch angepackt – und wichtige Dinge gar nicht. Um eine gesellschaftliche Mehrheit hatten Sozialdemokraten und Bündnisgrüne sich, trunken von der puren Arithmetik der Macht, erst gar nicht bemüht. Das hat alles seine Gründe. Die rot- grüne Regierung kann dauern. Die Gründe für ihr Scheitern auch.

I.

Eine Mehrheit ist für die Reform der Staatsbürgerschaft. Doch alle Welt, nicht nur die Opposition, hat nur vom Doppelpaß geredet – ein Mittel, kein Selbstzweck –, kaum einer über Sinn und Ziel der Reform selbst. Die CSU klagt an: Die wollen eine andere Republik. Und Rot-Grün antwortet entweder gar nicht (SPD) oder wie Rechtsgelehrte (die grünen Experten). Die Koalition verzichtet darauf, einen politischen Willen dagegenzuhalten, möglichst allgemein, auch die FDP und Teile der CDU einbeziehend, und möglichst selbstbewußt: Ja, wir wollen den Übergang in eine andere Republik, die der freien und gleichen Bürger, keine Zweiklassengesellschaft von Menschen, die dauerhaft hier leben.

So wurde die Chance vertan, eine gesellschaftliche Mehrheit für eine Jahrhundertreform zu gewinnen. Beispiel Atomausstieg: Ein richtiger Schritt auch hier, aber am Ende hat keiner mehr über Perspektiven und Alternativen debattiert, sondern nur noch über Jahresfristen und über einen Minister, der die Muskeln hat spielen lassen. Der falsche und unnötige ideologische Mehrwert, nicht nur hier gratis mitgeliefert, nützt der Sache nichts und schreckt Neugierige ab.

Eine altmodische Kapitalismuskritik, wie sie vielen Grünen biographisch bedingt noch in den Kleidern hängt, ist nicht nur bei den jungen Leuten weit out of area ihres Denkens und Fühlens. Aber sie würden hellhörig, wenn ein grüner Umweltminister gemeinsam mit einem deutschen Automobilkonzern, der bei der alten Regierung mit innovativen Ideen aufgelaufen ist, neue Wege alternativer Energien und Treibstoffe erforschen und implementieren würde, bei uns und vor allem in den expansiven Märkten (China). Doch wieder das alte Lied: Das Credo einer Minderheit ist wichtiger als die Chance, eine Mehrheit für eine neue Politik zu gewinnen.

II.

Das Richtige falsch angepackt: Das ist die grüne Hälfte der Geschichte. Notwendiges gar nicht erst denken: Diesen Part schreibt die SPD. Der Kanzler externalisiert Pannen und Probleme: die Pannen auf den kleinen Partner, die Probleme auf das Bündnis für Arbeit. Zu allen wichtigen Fragen gibt es in der SPD keine, kleine oder konträre Positionen. Vom Kanzler sollten die Grünen nicht Respekt, sondern Politik einfordern; in Regierung und Parlament etwas weniger Schröder und etwas mehr – ja, wen oder was denn eigentlich?

Zur Bildungsreform weiß die SPD vor allem: keine Studiengebühren. Auf dem Arbeitsmarkt wollen viele am liebsten ihre alte Vollbeschäftigung wieder haben. Im Sozialstaat darf es keine Niedrigeinkommen, auch keine sozialverträglichen (Kombilohn), geben. Als Rentenexperten beruft die Regierung die üblichen Verdächtigen, natürlich mit passender Alibidame. Derweil dräuen, trotz oder wegen des Bündnisses für Arbeit, Tarifkämpfe wie aus dem Industriemuseum. Rechte und Linke, Reformer und Reaktionäre, blockieren sich gegenseitig, nicht weil sie böse oder borniert wären, sondern weil die Regierung ihre Aufgabe nicht erfüllt.

Die Sozialdemokraten und ihr Kanzler sind die erste Adresse der Politik – und natürlich auch der politischen Kritik. Doch die Grünen lassen zu, daß der Ball immer wieder im eigenen Netz landet. Das liegt nicht nur am eigenen Ungeschick oder an dem Umstand, daß sie von manchen Medien schärfer ins Visier genommen werden, es hat tiefere Ursachen.

Die grünen Hyperrealos in Frankfurt und anderswo und der Superpragmatiker im Kanzleramt haben viel gemeinsam: die eitle Hoffnung, am besten ginge Politik ganz ohne Politik, ohne Substanz und Inhalt. Und der große Vorsitzende hat seine grüne Partei in Hessen lange Jahre so beherrscht wie Kohl die CDU – mit den nämlichen Folgen:

In der früheren Bundestagsfraktion hatten Christine Scheel, Andrea Fischer und Margarete Wolf eine intelligente Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik formuliert, ein Geheimtip für politische Feinschmecker gewiß, doch keiner der männlichen „Alphatiere“ hat die Botschaft auf den Punkt und plakativ in die Öffentlichkeit gebracht. Die personelle Breite kompetenter politischer Expertise steht in keinem Verhältnis zum verschwommenen Gesamtbild. Sie lieben das Kleine und Besondere, haben aber Angst vor dem Großen und Ganzen: einer mit „analytischem wie ethischem Anspruch“ (wie am 17. 2. von Christiane Grefe auf dieser taz-Seite gefordert) vorgetragenen Alternative zu den industriegesellschaftlichen Modellen der Wirtschaft, der Arbeits- und der Lebenswelt. Es ist schwer, ein trennscharfes Profil zu erkennen, das sie auch zur SPD unterscheidbar macht. Statt dessen begegnen sich auf der bündnisgrünen Bühne Endmoränen altlinker und ökofundamentalistischer Gläubigkeit und neoliberale Ausläufer, die selbst noch die FDP auf dem rechten Weg übertreffen. So gibt es bei den Grünen Alternativen, die keiner kennt, und es fehlen Alternativen etwa zu einer SPD-Schul- und Bildungspolitik, die den Mangel verwaltet.

Und so finden einstmals „rechte“ Themen nur noch rechte Antworten. Wann entdecken Liberale, Linke und Grüne Innere Sicherheit und Law&Order auch als die andere Seite persönlicher Freiheit und individueller Emanzipation? Und wann erinnern sie sich wieder, was sie, lang ist's her, bei Fassbinder im Film gesehen haben: Angst (vor Fremden) essen Seele auf. Man muß sie nicht teilen, aber verstehen und sich politisch, nicht moralisch dazu verhalten.

Die wichtigen Themen der Zukunft kreisen um die Frage nach der Identität in großen und in kleinen Netzen, um die Frage nach sozialem Zusammenhalt und Beteiligungsgerechtigkeit jenseits der Erwerbsgesellschaft; um Differenz, Dynamik und Deregulierung nicht nur in der Wirtschaft. Diese Themen werden, so oder so, alle Parteien verändern.

III.

Vor der Bundestagswahl fürchteten die einen eine Veränderung der Parteienlandschaft von links, falls die SPD und Rot-Grün erneut scheitern, nach der Wahl die anderen eine von rechts, falls sich das „bürgerliche Lager“ wie anderswo drei- oder vierteilt. Doch die Gehäuse des deutschen Parteiensystems werden einstweilen so bleiben, wie sie sind. Der Umbau geschieht hinter den Fassaden. Die SPD wird zusehen müssen, wie das traditionslose, abstiegsbedrohte Arbeitermilieu abwandert und bei der CDU/CSU, dieser „Formation der bürgerlichen Mitte und der demokratischen Rechten“ (Edmund Stoiber) einkehrt.

Bündnis 90/ Die Grünen werden derweil staatsgläubige Wähler an die SPD verlieren. Andere werden gehen, weil nach hundert Tagen noch nicht alle AKWs abgeschaltet sind. Ite, missa est: Weder als altlinke noch als ökofundamentalistische Partei haben die Grünen eine Zukunft. Aber auch nicht als eine etwas andere FDP. Wenn Daniel Cohn-Bendit mit Blick auf die jungen Leute von „einer hedonistisch eingestellten Generation“ spricht, unterliegt er vielleicht einer optischen Täuschung. Im übrigen müssen sich das Interesse an einer etwas anspruchsvolleren Politik und die Lust am Leben ja nicht widersprechen. Wie auch immer: Für eine politische Philosophie, die in panem et circenses, in Brot und Spielen, aufgeht, braucht es vermutlich keine grüne Partei. Früher, in militärischen Zeiten, konnte man sagen: Es gibt keinen Ersatz für den Sieg. In zivilen Zeiten muß es wohl heißen: Es gibt keinen Ersatz für Politik. Das ist der ganze Unterschied. Und das ganze Problem. Nicht nur für Rot-Grün. Eine Chance für die Grünen?

Warnfried Dettling