„Jeder Künstler ist ein Mensch“

Schattenreich mit Ich-Gespenst: Die Hamburger Deichtorhallen zeigen eine Retrospektive zu Martin Kippenberger. Der Maler und Bildhauer hatte einen manischen Produktionsdrang und starb 1997 an Krebs  ■ Von Hajo Schiff

Deformierte Laternen aus schlechten Säuferwitzen haben Gestalt angenommen. Sie formen Ovale, durchdringen Wände, sehen wie Weihnachtsmänner aus oder neigen sich den Betrachtern zu – ein dreizehnfach bestücktes Horrorkabinett schauerlicher, plastischer Wahngebilde. Trostreich, daß dies nur ein Raum der ersten umfangreichen deutschen Ausstellung von Arbeiten Martin Kippenbergers nach dessen Tod 1997 ist.

Kaum ein Museum fand sich zu Lebzeiten bereit, seine Arbeiten anzukaufen. Allerdings engagierten sich Privatsammler verläßlich für Kippenberger. Auch der jetzige Direktor der Hamburger Deichtorhallen, Zdenek Felix, der schon vor fünfzehn Jahren in Essen die legendäre Ausstellung „Wahrheit ist Arbeit“ des Trios Büttner/Kippenberger/Oehlen organisierte, hat als Privatmensch schon früh und preisgünstig Bilder gekauft. Könnten die aktuellen Ausstellungen nun Marktreaktionen darauf sein, daß ein toter Künstler immer ein guter Künstler ist? Andererseits kann es im Fall des mit 44 Jahren gestorbenen Kippenbergers nicht schaden, wenn man zugibt, daß viele Künstler schon für weit geringere Kreativität geschätzt wurden. Und überhaupt – kann man denn nüchtern über Kippenberger schreiben?

Gut also, wieder Werke zu sehen. Die zentrale Arbeit in der Hamburger Ausstellung ist „The Happy End of Franz Kafka's ,Amerika‘“. Es ist eine umfangreiche Installation von Tischen und Stühlen auf einem Sportfeld mit Tribünen, die erstmals in Deutschland gezeigt wird. Für sie wurde das Zentrum der Deichtorhallen zur großen Halle rückgebaut, die nun tatsächlich einen sporthallenhohen Platz zur Entfaltung dieses komplexen Sozialdramas bietet.

Seit die Urhorde im Gras saß, hat sie dreierlei erfunden: den Stuhl als Erhöhung, den notwendig folgenden Tisch für Planspiele und zur Distanz zum anderen und die Umformung des Grases zum rasengrünen Spielfeld für den Rest der Jagdinstinkte. All das wurde und wird von der Gesellschaft kritisch beäugt. So ist Kippenbergers Installation – auf den ersten Blick der skurrile Auftritt eines heillos zwischen Design und Sperrmüll, Astronautenstuhl und Jägerhochsitz, Kunst und Krempel zusammengewürfelten Möbellagers – in der Tat eine eindrucksvoll zum Objekt geronnene Soziologie des Dialogs. Jede Verbindung aus einem Tisch und zwei Stühlen fügt sich doppelsinnig in die Situation eines Einstellungsgesprächs, das von Tribünen aus in Ruhe nachempfunden oder als absurdes Gesellschaftsspiel beäugt werden kann.

Überhaupt war für Kippenberger die Gruppe wichtig: Ob in Gemeinschaftsarbeiten (mit Büttner oder den Oehlen-Brüdern), bei der Übernahme von anderen Künstlern in eigene Zusammenhänge (z.B. Beuys oder Franz West) oder mit Aufträgen an Plakatmaler (die Serien „Lieber Maler male mir“ oder „Heavy Burschi“) – Aneignung der Kunstgeschichte betrieb er gerne und direkt. Schon der Gestus des dauernd sich selbst erforschenden Künstlers ist eine traditionelle Haltung, in der Kippenberger immer wieder Picasso zitiert. Hinter aller Ironie und allem Zynismus bleibt dabei die existenzialistische Frage „Gibt's mich wirklich?“, die er 1981 programmatisch auf ein Ölbild schrieb. Im letzten größeren Zyklus „Das Floß der Medusa“ setzt Kippenberger in Zeichnungen, Fotografien und Gemälden sich selbst in alle Einzelposen von Géricaults Katastrophenbild aus dem Jahr 1819 und spielt im Angesicht seiner eigenen Krebserkrankung die Gesten von Aufbäumen und Resignation noch einmal durch.

Die Rastlosigkeit der Kippenberger-Biographie wird auch sichtbar hinter den 193 gezeigten „Hotelzeichnungen“. Es sind Entwürfe, Improvisationen und Meisterskizzen auf dem Briefpapier exquisiter Herbergen, die gleichwohl noch die psychischen Gefahren von „Bates Hotel“ am Highway 42 ausdrücken. Vergeblich nach Wurzeln suchend zeichnet der Reisende Kippenberger auf die zahllosen Caipirinha-Rechnungen des Bahia Othon Palace im brasilianischen Salvador die Grundrisse all der Wohnungen, in denen er lebte.

Was aber hält nun ein derartig vielgestaltiges, zwischen klassischer Zeichnung und nacktem Witz pendelndes Werk zusammen? Es scheint vor allem die seltsam konservative Hoffnung des Genies auf Inspiration aus dem Rausch und dem Unbewußten. Dazu kommen Zitationskunst und die Vision globaler Vernetzung von jedem mit allem, wie Kippenberger sie zuletzt in dem Projekt einer weltweiten U-Bahn-Linie mit Eingangsattrappen in Dawson City, Kassel, Leipzig und Münster manifestierte.

Rastloses Zeichnen, ständiges Saufen, genialische Attitüden: Es sind die immer wieder vom ordentlichen Bürger geliebten Attribute der Künstlerboheme, die der rheinisch-weltgewandte Kippenberger verkörperte. In seinem Werk spiegelt sich aber auch Kunstproduktion im Geist der achtziger Jahre wider – wenig theoretisch, dafür enorm weitgefächert und sehr lustvoll.

„Martin Kippenberger“. Bis 25.4., Deichtorhallen Hamburg. Als Katalog gibt es die Koproduktion mit der Kunsthalle Basel „Martin Kippenberger: Selbstbildnisse“, 160 S., 29 Mark. Außerdem erscheint Ende März ein Hamburger Katalog zur Amerika-Arbeit (ca. 35 DM). Eine CD-ROM versammelt die Kippenberger-Web-Seiten zur documenta, dazu ausgewählte Musik, Vorstellungen wichtiger Orte und Bars, eine Dokumentation der Nachrufe und Künstlerhommagen (75 DM)