Understatement ohne Topfhut

■ Die Pianistinnen Katia und Marielle Labeque suchten in der Glocke nach Gefühl ohne Pathos

Wie Friedrich Gulda und Vanessa Mae ignorieren die Labeques die Grenze zwischen U und E. Gerne spielen sie auch mal Transkriptionen von Stücken eines Thelonius Monk, John McLaughlin oder Chick Corea. Doch weder tragen sie wie Gulda esoterische Topfhüte noch Maes durchsichtigen Wams. An zwei Abenden zeigten sie sich in der Glocke so makellos schön und abgeklärt, daß sie auf Effekte wie Exotik oder Erotik locker verzichten konnten.

Getuelos klassisch waren ihr dunkelroter respektive dunkelblauer Hosenanzug; von Understatement getragen war die Art, wie sie sich Debussy näherten. Ist Debussy – von Claire de la lune bis zum Nachmittag eines Fauns – im heutigen Konzertbetrieb eher geliebt als Träumer einer weltflüchtigen Schwerelosigkeit, so zeigen ihn die Labeques als verspielten, unpathetischen Antiwagnerianer. Göttlich leicht ist ihr Anschlag für die „Petite Suite“. Doch läßt er eher an ein lustiges Jo-Jo in Kinderhänden denken, denn an Monets mystische Seerosentümpel. Denn sparsam ist der Pedalgebrauch der Labeques. Und Debussys Lizenz zum Dauerrubato nehmen sie nicht in Anspruch. Präzise wie ein Uhrwerk wieseln die Finger wie beflissene Ameisenbeinchen über die Tastatur. Aus dem Handgelenk – bei Katia oft aus großer Höhe – kommt der erste Impuls zu jeder neuen Figur; der Rest spult wie von selbst ab, ohne Dräuen, Zögern, Hadern, Bohren.

Schon bei Debussy zeigen die beiden aber auch, daß sie Spaß an brachialer Kraft haben, vor allem aber beim „Konzert für zwei Klaviere“ von Francis Poulenc, dem Mitglied der antiromantischen „Groupe des Six“. In diesem Stück von 1932 ist ein herrschaftsfreies Nebeneinander von Tonalität und Atonalität zu bewundern, das sich heutige Komponisten erst allmählich rückerobern müssen, unter mühsamen, hirnraufenden Berufungen auf die Postmoderne. Mit viel Lust lassen sich die Labeques am Anfang des zweiten Satzes auf eine halb ironische, halb hymnische Persiflage von haydnartiger Naivität ein: Musik muß nicht immer großartig und gewichtig, kann harmlos wie ein Ammenmärchen sein; das verkünden sie auch in einer schundverliebten operettenhaften Zugabe von Poulenc. Wenn der aber, fast im Stile eines Charles Ives, vom Tosen des modernen urbanen Lebens zu schwärmen scheint, verwandeln die Labeques ihre Hände in Hämmer aus Stahl.

Nach einer Halbzeit der entschlackten Gefühle durfte das Philharmonische Orchester Bremen unter Michel Swierczewski nach der Pause auf den Flügeln von Ravels Ballettmusik „Daphnis et Chloe“ endlich enthemmt schwärmen. Was der Chor der Singakademie mit gelegentlichen Einwürfen von Aaaaaahs und Mmmmmmms untermalte. Als ginge es um die Schöpfungsgeschichte, entsteigt diese Musik mit fast unhörbaren Pauken und Bässen aus dem Nichts, um nach viel Wolkenballen und -lichten und -ballen und -lichten ins große Tosen zu münden. Unser Klasseorchester zeigt diese Musik in ihrer verklärten Naturhaftigkeit: Seufzer in den Geigen werden zum Wehen von Schilf, einfache Oboen- und Flötenfloskeln zum Gesang der Vögel. Statt menschlicher Psychologie wie bei Beethoven bildet man sich ein, das vermeintliche Weben von Luft, Wind, Wellen zu hören. Ab zum Bahnhofskiosk und ein Heft Hedwig Courths-Mahler erstehen. bk