Der Osten beginnt an Gleis 16

■ Der Bahnhof Lichtenberg ist die Drehscheibe in Berlin für Osteuropa. Während er tagsüber recht langweilig und im maroden DDR-Outfit daherkommt, wird es abends dort lebendig. Dann fahren von hier die Züge in R

Stimmengewirr gibt es in jedem Bahnhof. Doch in Lichtenberg ist es anders. Nicht Französisch oder Italienisch, kaum Englisch oder Spanisch ist zu hören. Die Stimmen sind nur schwer zu identifizieren: Ist das Russisch? Oder Polnisch? Die Frau, die sich müde auf ihrem Koffer niedergelassen hat: Fährt sie nach Minsk? 60.000 Reisende Tag für Tag. Doch erst abends erwacht der Bahnhof Lichtenberg wirklich zum Leben. Denn von hier aus starten die Schlafwagen nach Moskau, Kiew und Krakau.

Auf den Bahnsteigen ist es schon bedrohlich eng. Volle Gepäckwagen versperren den Weg, Schaffner beäugen mißtrauisch die Koffer. Slawische Sprachen ringsum. Was ist in den Gesichtern zu lesen? Abschiedsschmerz? Oder die Freude, endlich wieder nach Hause zu kommen? Die Mischung ist es wohl, die die eigentümliche Stimmung auf dem Bahnsteig ausmacht. Die grellen Lampen in der Bahnhofshalle verscheuchen die Nacht nach draußen. In den Mienen aber läßt sich die späte Stunde nicht verbergen: blasse Gesichter, müde Augenlider. Worauf warten sie alle?

Seine DDR-Vergangenheit kann der Bahnhof Lichtenberg nicht verleugnen. Die niedrigen, dunklen und steilen Gänge zu den Bahnsteigen entstanden 1978, als der alte Bahnhof Friedrichsfelde neu gebaut und gleich umbenannt wurde. Vor allem aber sind es die Ziele der 670 Züge am Tag: Neben Kiew, Krakau und Moskau stehen Stettin und Breslau, Chemnitz, Dresden und Rostock auf dem Fahrplan.

Die Bahn hat jedoch längst begonnen, das Ostalgiekapitel zu schließen. Das neue Reisecenter und die Videoleinwand lassen erahnen, was in den nächsten Monaten auf den Bahnhof Lichtenberg zukommt. Er wird komplett renoviert, das alte Wandbild neben dem Café ist schon abtransportiert – in den Tierpark Friedrichsfelde. Seinen Flair wird der Bahnhof schon mit dem Fahrplanwechsel im Mai ein Stück weit verlieren: Die Züge Chemnitz–Rostock, Stettin–Berlin, Krakau–Berlin und Frankfurt/Main–Berlin steuern dann voraussichtlich andere Bahnhöfe an. Der Zug nach Breslau fährt nur noch einmal in der Woche. Lichtenberg – das wird ein moderner, austauschbarer Bahnhof. Nur am Abend bleibt er, wie er ist: anders. Jutta Wagemann