Mann mit dem Blut eines Toten

Erik Seedhouse aus Köln ist Weltmeister im Zehnfach-Triathlon. Sein Weltrekord steht auf 218 Stunden. Doch nun hat er genug von dieser Welt – und will ins All  ■ Von Bernd Müllender

Als er 20 war und Student, begann alles mit einem niederschmetternden Attest: Nein, ein richtig guter Marathonmann in Weltrekordbereichen unter 2 Stunden 10 Minuten, prophezeite der Doc, werde Erik Seedhouse nie. Grund: Das suboptimale Verhältnis der angeborenen kurzen und langen Muskeln, die eine Zeit von bestenfalls schlappen 2:14 erlaubten. Derart genetisch gebeutelt, orientierte sich der Kanadier um auf die große Kombination: Er macht den Zehnfach-Ultra-Triathlon. Länger gibt's nicht.

Solch ein Deca-Triathlon bedeutet: Erst 38 Kilometer Schwimmen, dann 1.800 Kilometer Radfahren und danach zehn Marathons, also 422 Kilometer. Das ist wie: Einmal von England den Ärmelkanal durchkraulen, dann über Hamburg und Prag nach Freiburg radeln und von dort noch mal eben nach Köln joggen. Die letzte Deca-WM fand in Monterrey/Mexiko statt; Seedhouse siegte in Weltrekordzeit von 218 Stunden, 20 Minuten, 41 Sekunden und ist seitdem Weltranglisten-Erster im Ultrasport. Ein Zielfinish war es übrigens nicht gerade: Der Zweite war 18 Stunden zurück.

Seedhouse (34) sieht erstaunlich normal aus. Gar nicht ausgemergelt und eher jünger als er ist. Ziemlich ernsthaft ist er, wortkarg anfangs, vielleicht hat er schon zu oft die Frage gehört, ob er denn wahnsinnig sei, bekloppt oder doch nur verrückt. Sein Puls läßt sich tatsächlich fühlen und wirkt gar nicht wie in Zeitlupe. Jetzt dürften es vielleicht hohe 50 sein, sagt er, „37 Ruhepuls habe ich nur morgens“. Drunter geht es kaum: Björn Dählie, der norwegische Ski- Marathonian, hat mal 29 erreicht; das ist der beste Wert in der sportmedizinischen Forschungsgeschichte. Zum Gespräch ißt Seedhouse Sachertorte: „Ich lebe doch nicht für den Verzicht. Eine kleine Belohnung muß schon mal sein.“

Wie Deca-Triathlon so ist? „Lang, sehr lang.“ Bei einem Deca gibt es keine Verschnaufpausen: Die Zeit läuft immer mit. Für Essen und Schlafen nahm sich Erik Seedhouse in Monterrey weniger als drei Stunden pro Tag. Dank der rund 100.000 Kilokalorien, die er durch bergeweise Müsli, Pfannkuchen, Pasta und Fisch während der neun Tage in sich hineinschaufelte, wog er nach dem Wettkampf ein halbes Kilo mehr. „Ich hatte halt gut gegessen“, grinst er vage.

Zwölf Teilnehmer waren in Mexiko dabei; seit 1992, schätzt Erik, gibt es vielleicht 35 Menschen, die einen Deca durchgestanden haben. „Bei einem solchen Wettkampf“, sagt er, „läßt du immer ein Stück Leben.“ Beim Bluttest danach sagte der Arzt zu: „Alle Ihre Zellen sind zerstört. Das ist das Blut eines Toten.“ Die Erholung dauert „eine Ewigkeit“, schätzt Erik: „Drei Wochen lang Schmerzen bei jeder Treppe. Einen Monat lang habe ich jede Nacht 14 Stunden geschlafen und richtig schlimme Alpträume bis hin zum Wunsch, wirklich tot zu sein.“

Seine Freundin Doina Nugent macht ebenfalls in Marathon und Ultra und war zuletzt Vierte im Spartathlon in Griechenland (240 Kilometer Lauf). Wie er sie kennengelernt hat? „Beim Laufen.“ Da lacht er plötzlich. In Monterrey hat sie ihn auch gecoacht: „Sie fragte mich mal, nachts war das, warum ich plötzlich mit dem Rad slalom fahre. Ich habe gesagt: Na, wegen der Gräber. Da will ich doch nicht reinfallen! Ja, da waren überall Grabsteine auf der Strecke, und ich hab sie gefragt: Warum sind die da? Das war really frightening. Ich hab dann erst mal eine volle Stunde geschlafen. Danach waren die Gräber weg.“

Gute Ultra-Triathleten sind Profis, aber finanziell auf niedrigem Niveau: „Nur ein Sieg bringt Sponsoren. Der Deca-Erfolg war für mich wie eine Visitenkarte.“ Seitdem zahlen Red Bull oder die Radfirma Raleigh seine Reisekosten, dazu zusammen karge 2.000 Mark im Monat und hier und da mal ein Bonus von 1.500 Mark für eine gute Plazierung. Reich wird man damit nicht.

Erik Seedhouse hat zwei 40- Stunden-Wochen: einmal Training (siehe Kasten), einmal Job. Da bleibt ansonsten kaum mehr als Schlaf. „Das letzte Mal Fernsehen?“ überlegt er. „Das war letzten August.“ Nach jedem Wettkampf macht er Minimum zwei Wochen Pause, „dann habe ich ein sehr konzentriertes Sozialleben: jeden Tag Kaffee und Kuchen, Freunde besuchen, jeden Tag Kino, jeden Tag TV.“ Er nennt das „mein privates Blockprogramm“.

Daß er derzeit in Köln lebt, liegt an seinem Job. Seedhouse ist wissenschaftlicher Assistent bei der Deutschen Raumfahrtagentur in Köln-Wahn und schreibt seine Doktorarbeit über Raumfahrtkrankheiten: Zwei Drittel aller Novizen im All, erzählt er, übergeben sich, was meist „sehr plötzlich“ komme und somit nicht eben schön ist für die Bordhygiene in der Schwerelosigkeit: „Ein Riesenproblem, über das die Nasa nicht eben gerne spricht.“ Seedhouse untersucht im besonderen, ob Ausdauersportler besser mit dem Problem zurechtkommen, weil „deren Körper viel besser mit extremem Streß umzugehen gelernt haben“.

Ein maßgeschneidertes Thema – denn in drei Jahren will er selbst ins All. Die Konkurrenz ist groß, aber seine Chancen stehen „nicht so schlecht“: Drei Sprachen spricht er fließend, er hat die Tauchlehrerlizenz, aus der Army Erfahrung im Fallschirmspringen und mehr Kondition als alle Armstrongs und Gagarins zusammen. Er hat schon Tests in der Schwerelosigkeit absolviert – ein „unbeschreiblich sensationelles Gefühl, das keine Droge der Welt bieten“ könne. Nicht mal ein Deca. Schlecht ist ihm auch nicht geworden.

1999 noch mal den Deca-Titel verteidigen? „Nein“, sagt Erik Seedhouse, „einmal ist wirklich genug. Man bekommt zu viele Schäden sonst auf Dauer.“ Und er berichtet von einem Laufkollegen, der einen 20fach-Triathlon absolviert hat. „Das ist Fanatismus.“ Er will jetzt ins All – obwohl es ja kaum einen Ort gibt, wo man sich sowenig bewegen kann wie beim wochenlangen Aufenthalt in einem Raumschiff. Aber Erik Seedhouse sieht sich bestens präpariert: „In Langeweile bin ich ja geübt.“