Unter Hackern und Nobelpreisen

■ E-Mail wird ein köperliches Bedürfnis, hier tagt das World-Wide-Web-Konsortium, das Netz ist so alltäglich wie Ketchup: Am "Massachusetts Institute of Technology" lernen sogar Dinge denken

Kaum angekommen, verspüre ich den unwiderstehlichen Drang, mir kleine Schraubenzieher, Zangen und einen Lötkolben zuzulegen. Nach vier Mini- Robotern aus dem Baukasten fühle ich mich schon besser. Die „Do it“-Mentalität ist ansteckend. Wer sich an einer der wichtigsten Denkfabriken der Welt aufhält, soll etwas entwickeln, was weiter geht und tiefer, höher, schneller, besser, billiger und stärker ist als alles, was die Wissenschaft und der Markt schon kennen.

Das gelingt am „Massachusetts Institute of Technology“ denn auch unentwegt. Mein kleines Roboterprojekt allerdings bewegt auf Kindergartenniveau. Den Wunsch, die Wissenschaft bedeutend zu prägen, unterscheidet die Forschergemeinde am MIT nicht von derjenigen anderer Spitzenuniversitäten. Was aber ist anders? Das Studiengeld von jährlich stattlichen 24.000 Dollar (exklusive Unterkunft und Verpflegung). Der Standort inmitten von fünfzig anderen Universitäten in nächster Nähe. Die Tradition, dem Pentagon ebenso nahezustehen wie der Industrie.

Und anders ist auch, daß die Universität sich von so ziemlich jeder Form von Gastfreundlichkeit abwendet. Forschung und Lehre sind Höchstleistungssport. Zum „Innovation Summit“ reist Vizepräsident Al Gore an, Entwicklungsteams von Großfirmen gehen ein und aus. Sie finanzieren angewandte Forschung und Aufenthalte für ihre Mitarbeiter. Zwölf Nobelpreisträger schmücken die Liste der Professoren, Auch die Namen der anderen sind ein Who's who des jeweiligen Fachgebietes: Marvin Minsky, Patrick Winston, Sherry Turkle, Philip Sharp, Michael Dertouzos, Tim Berners- Lee, Noam Chomsky, Eric Lander, Patti Maes, Nicholas Negroponte, Rodney Brooks, Paul Krugman. Regelmäßig feuert das MIT ganze Salven von Patentanmeldungen ab: 195 im Jahr 1997. Robert Langer, Pionier der Biomedizin, beginnt ein Interview mit der Bemerkung: „Insgesamt habe ich nun 320 Patente ...“

Ein „Enterprise-Forum“ oder das „Technology Licensing Office“ pflegen die Beziehungen zur Industrie wie auch Präsident Charles Vest selbst. Daraus werden Jobs für Doktoranden und Diplomanden. Konzerne steigen in die kleinen Start-ups ein, die rund um den Campus angesiedelt sind, Gelder und Aufträge fließen zurück. Eine Studie befand, daß insgesamt viertausend Firmen mit einem Gesamtumsatz von 232 Milliarden Dollar und 1,1 Millionen neuen Arbeitsstellen von MIT- Absolventen gegründet wurden. Das MIT sei das „Epizentrum seismischer Veränderungen in unserer Wirtschaft in unserer Gesellschaft“, sagte Präsident Clinton. Als er hier ankam, war offensichtlich, daß die Herren sich kennen, 16 MIT-Absolventen gehören zu seinem Beraterstab.

Essen am Computer, Joggen mit Zahlen

Nur das Leben selbst ist spartanisch. Nebenan glänzt Harvard mit efeubewachsenen Backsteingebäuden aus dem Bilderbuch. Die Nobeluniversität bietet ihren Studenten A-cappella-Gruppen, Rhetorikwettkämpfe oder sportliche Betätigung in traumhaft angelegten Anlagen. So etwas ist am MIT unbekannt. Sport wird kleingeschrieben – ganz klein. Manche der modernen Gebäude haben den Charme verfallener Industriegebiete. Das Essen holt man sich von fahrenden Büdchen, die man „roach-coaches“ oder Kakerlakenbusse nennt. Mit seinem Styroporpäckchen geht man gleich wieder an die Computer.

In den Fluren, vor allem dem 251 Meter langen Infinite Corridor des Hauptgebäudes – einer Verbindung zwischen den Häusern 8, 4, 6, 10, 3, 11, 5 und 7 – werden grundlegende Wissenschaftsfragen, Hausarbeiten, Publikationen, Projekte und Versuchsergebnisse im Joggingtempo besprochen. „Ich mache 2.009, 2.165, 6.003“, sagt eine Studentin, „bin gerade auf dem Weg zu 13, treffen wir uns später in 26-100?“ Der Satz ist völlig klar: Die Zahlen bezeichnen die Kurse „Product Engineering“, „Robotics and Mechatronics“ und „Signals und Systems“. Die Sprecherin ist auf dem Weg zu Gebäude 13, 26-100 ist ein Hörsaal, in dem Kinofilme laufen: Zahlen sollen hier nicht aus dem Sinn.

Kurz sind auch die Gespräche in der Kantine, in Seminaren oder Vorlesungen. Alle sind in Eile. Jeff etwa, 25, Doktorand der Physik, der bereits ein Philosophiestudium absolviert und vor zwei Jahren in seinem Zimmer im Wohnheim seine Software- und Beratungsfirma eingerichtet hat. Oder Amy, 23 Jahre alt, Spezialistin für computergesteuerte Spracherkennung. Sie hat Mühe, die hochdotierten Arbeitsangebote abzuwehren. Steve ist 24 Jahre alt, das Buch, das er liest, ist etwa 10 Zentimeter dick und die Erläuterung einer Programmiersprache. Steve braucht nur wenige Stunden, um sich einzuarbeiten. Chang, 22, sitzt vor mir in einem Seminar über die Anwendungen der Informatik in der Molekularbiologie. Mit größter Mühe versuche ich, wenigstens Bruchstücke der mathematischen Ausführungen zu verstehen. Chang macht sich kaum Notizen und löst sämtliche der gestellten Aufgaben und Hausarbeiten. Er atmet die Materie irgendwie ein: „I just get it“, sagt er.

Eine Japanerin beklagt, daß der Geniepegel am MIT vor 20 Jahren höher gewesen sei. Zum Glück bin ich jünger. Im Lego-Raum des Media-Labs herrschen paradiesische Verhältnisse. Alle Lego-Teile, die man sich nur denken kann, sind dort versammelt. Sie gehören dem Konsortium für „Things that think“. Mein Roboter müßte sich damit fast von alleine bauen lassen. Aber noch kann ich meine Skizzen überhaupt nicht umsetzen. Ich verlasse das Labor und merke auf dem Weg zum Fahrrad, daß es dunkel ist. Komisch, gerade war es noch frühmorgens.

Der unmittelbare Zugang zu den Geistesgrößen ihres Faches verpflichtet. Immer wieder lassen Professoren Hinweise fallen, daß man zur Elite gehöre. Das Pensum ist enorm – wöchentliche Hausaufgaben, aufwendige Projekte. In einem Kurs bauen Studenten Roboter, die zum Ende des Semesters zum Wettkampf antreten – dafür wird auch im geheimen gebastelt.

Primitiv ist mein Roboter programmiert, aber auch er rollt schließlich und erfüllt mich mit Mutterstolz. Doch plötzlich sehe ich vor meinem geistigen Auge eine ganz andere Idee und beginne ihn gleich wieder auseinanderzunehmen. Es wird eine lange Nacht – aber das macht nichts. Die Universität ist völlig vernetzt, E-Mail wird zu einem physischen Bedürfnis. Man ist so oft wie nur möglich online, vor dem Frühstück oder eben auch mitten in der Nacht. Das World Wide Web ist so alltäglich wie Ketchup auf den Pommes. Das liegt nicht nur daran, daß sein Erfinder, Tim Berners-Lee, hier ist wie auch das World-Wide-Web- Konsortium. Jeder Kurs hat seine Webseiten. Hausaufgaben und Zusatzliteratur stehen dort bereit, Skizzen und technische Daten, Texte, Bilder von Modellbauten und Programmierungsmodule. Jede Woche muß ein Teilnehmer meines Seminars Zusammenfassungen des Lesestoffes an die E- Mail-Liste der Studenten und Professoren schicken.

Übergewicht und abgewetzte Turnschuhe

In einer Sporthalle tritt eine Harvard-Mannschaft zum Volleyball an – cleane Männer in Crimson- T-Shirts im universitätskennzeichnenden Bordeauxton, gekämmt, mit neuen Turnschuhen und passenden Crimson-Socken. Die Kerle vom MIT sehen ein wenig müde aus. Sie sind schlecht rasiert, übergewichtig, tragen ausgeleierte T-Shirts, abgewetzte Turnschuhe und Socken mit hängenden Bündchen. Harvard spielt elegant und engagiert, MIT erbarmungslos, hart und undogmatisch – Harvard verliert haushoch. Ebenmaß in den Gesichtszügen oder das, was sonst als Schönheit beim Menschen gilt, ist eher auf dem Harvard-Campus zu finden. Akne, Übergewicht, schlechtsitzende Hosen und Hemden sind beim MIT verbreitet. Der allgemeine Begriff für diese Leute: Nerds. Das sind Personen, die eine gewisse soziale Beschränktheit an den Tag legen und für Äußerlichkeiten keine Zeit haben, da sie gedanklich bei ihren Molekülen oder Prozessoren sind.

Oder sie spielen und hacken. Beliebt sind Bürostuhlrennen – natürlich fährt man rückwärts. Weltberühmt war das auf der Kuppel des klassizistischen Hauptgebäudes geparkte Auto mit dem Aufkleber auf der Stoßstange „I brake for donuts“. Eine funktionierende Telefonzelle stand daneben. Es ist ein wenig still um die MIT-Hacker geworden. So mancher Professor legt mehr Anarchismus an den Tag als die Studenten. Auf einer öffentlichen Veranstaltung spricht der Computerwissenschaftler Ron Rivest über Verschlüsselungssoftware und macht sich dabei über den anwesenden FBI-Beamten lustig: Die Bundespolizei betrachte solche Programme als Freiraum für Verbrecher. Der volle Hörsaal buht den Professor dafür aus.

„IHTFP“: diese Graffiti-Schrift ziert viele Toiletten, aber auch die Homepage des Hackermuseums (hacks.mit.edu/Hacks/by_loca tion/).Auf deutsch bedeutet sie ungefähr: „Ich verabscheue diesen beschissenen Ort.“ Letztes Jahr stürzte sich ein Student, der mit 15 sein Studium am MIT aufgenommen hatte, aus dem Fenster in den Tod. Die Hochschulpsychologen in der MIT-Klinik bauen ihre Büroräume aus, die Nachfrage ist groß. Aber wenn ein Experiment gelingt, das Molekül endlich kristallisiert oder das U-Boot wie ein Pinguin durchs Wasser gleitet, gellen Jubelschreie durch die Labore. Dann gibt es für alle – ob Professor oder Erstsemester – Pizza, Coke oder Surge, das Getränk mit doppeltem Koffeingehalt.

Endlich läuft auch er, mein neuster kleiner Roboter, und erledigt in einer mit Infrarotsignalen übermittelten Choreographie mit einem Partnerroboter einen kurzen Arbeitsablauf. Daniel Hillis, der am MIT einen völlig neuartigen Rechner entwickelte, sagte einmal, er würde gerne einen Computer bauen, der stolz darauf ist, daß er ihn gebaut habe. Am MIT bin ich nur ein ganz kleines Milliwatt- Licht, aber allmählich verstehen ich, was er meint. Vivien Marx

v.marx@mit.edu

Vivien Marx erhielt 1997 den Holtzbrinck- Preis für Wissenschaftspublizistik und wurde danach von der Knight Foundation für ein Jahr als „Research Fellow“ ans MIT berufen.