Annäherung an die Wahrheit

Heute übergibt die guatemaltekische Wahrheitskommission ihren Abschlußbericht. Doch was ist Wahrheit in diesem Land? Versuch einer Erklärung  ■ Aus Guatemala-Stadt Toni Keppeler

Achtzehn Monate lang arbeitete die „Kommission zur historischen Aufklärung“ in Guatemala. Bis zu tausend Rechercheure zogen für die Wahrheitskommission durch das mittelamerikanische Land, sprachen mit Augenzeugen, Opfern und wenigen Tätern des 36 Jahre währenden Bürgerkriegs. Der Leiter dieser Wahrheitskommission, der deutsche Völkerrechtler Christian Tomuschat, wird den mehrbändigen Bericht heute um zehn Uhr Ortszeit im Nationaltheater in Guatemala-Stadt Vertretern der Vereinten Nationen, der Regierung und der ehemaligen Guerilla der „National-revolutionären Einheit Guatemalas“ (URNG) übergeben. Doch was ist Wahrheit in einem Land wie Guatemala?

Schon vor der mit dem Friedensvertrag vom 1996 eingesetzten „Kommission zur historischen Aufklärung“ hatte eine andere Kommission versucht, die Wahrheit des Bürgerkriegs zu dokumentieren. Das Projekt „Rettung der historischen Erinnerung“ (REMHI) des Erzbistums von Guatemala-Stadt hat 55.000 Fälle von Menschenrechtsverletzungen aus den Jahren 1960 bis 1996 dokumentiert. Achtzig Prozent davon werden der Armee und den von ihr kontrollierten paramilitärischen Gruppen angelastet.

Am 24. April vergangenen Jahres präsentierte die Kommission ihren Abschlußbericht in der Kathedrale der Hauptstadt. Zwei Tage später wurde der Leiter des Projekts, Weihbischof Juan Gerardi, in der Garage seines Pfarrhauses ermordet. Elf Schläge mit einem Betonklotz zertrümmerten das Gesicht des 75jährigen. Ein paar Tage später wurde ein „dringend der Tat verdächtiger“ Mann festgenommen: der 24jährige Alkoholiker Carlos Enrique Vielman. Obdachlose sollen ihn auf einem Phantombild erkannt haben.

Polizeiexperten winkten schnell ab. Vielman ist über einen Kopf kleiner als der Ermordete, hat einen verkrüppelten rechten Arm (mit dem er laut Autopsie zugeschlagen haben soll), und zudem ein Alibi: In der Tatnacht soff er mit zwei Kumpels in einer Kantine, weit weg vom Pfarrhaus Gerardis. Dort ist er nach Auskunft der Wirtin friedlich eingeschlafen und schlummerte auch noch morgens, als die Kantine wieder geöffnet wurde. Trotzdem wurde er erst einmal für drei Monate in Haft gehalten.

Der nächste, der als Tatverdächtiger verhaftet wurde, war der Priester Mario Orantes. Er habe seinen deutschen Schäferhund Baloo auf Gerardi gehetzt, hieß es. Schnell war eine ganze Reihe möglicher Motive im Umlauf: der 39jährige Orantes und der 75jährige Gerardi hätten dieselbe Geliebte gehabt. Oder ein Verhältnis miteinander. Oder Orantes eines mit einem Soldaten, und Gerardi sei dahinter gekommen...

Die Staatsanwaltschaft präsentierte auch einen Beweis. Der spanische Gerichtsmediziner José Manuel Reverte will auf Fotos der Leiche Spuren von Hundebissen festgestellt haben. Daß das elf Jahre alte Tier den Bischof zu Tode gebissen hat, ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Der Hund leidet an einer Hüftkrankheit und kann sich ohne Hilfe nicht einmal aufrichten. „Wir habe ihm in die Geschlechtsteile getreten, um seine Aggressivität zu testen“, erzählt ein Ermittler. „Baloo hat nicht einmal gebellt.“ Trotzdem wurde Gerardi noch einmal ausgegraben und untersucht. Sieben Gerichtsmediziner fanden keine Hundebisse.

Die katholische Kirche sprach von Anfang an von einem politischen Mord. Als Hinweis darauf wurde wenige Tage nach Gerardis Tod ein Bekennerbrief der rechtsextremen Todesschwadron „Rächender Jaguar“ bekannt. Das Menschenrechtsbüro des Erzbistums ermittelte selbst und kam auf zwei Männer als mögliche Tatbeteiligte: den Offizier im Ruhestand, Byron Lima, und seinen Sohn Byron Lima Oliva, ein Mitglied der Eliteeinheit der Präsidentengarde. Doch in diese Richtung wurde nie ermittelt. Im Gegenteil.

Der Anwalt Carlos Solis Oliva aus dem Familienclan der beiden Militärs gab zu Protokoll, nach seinen Ermittlungen sei Efrain Hernández, der Schatzkanzler des Erzbistums, in den Mord verwickelt. Angehörige von ihm seien Mitglieder einer Bande, die sich auf Kunstschatzraub in Kirchen spezialisiert habe. Hernández habe davon gewußt, und Gerardi sei ihm auf die Schliche gekommen.

Schließlich meldete sich auch noch Mario Menchú zu Wort, der Anwalt, der am Anfang der Geschichte den Alkoholiker Vielman vertreten hatte. Nach seinen Ermittlungen sei Ronald Ochaeta, Direktor des Menschenrechtsbüros des Erzbistums, der Drahtzieher des Mordes. Sein Motiv: Das Büro bekomme „Millionen aus dem Ausland“. Ochaeta habe sich mit Gerardi um die Verteilung dieser Pfründen gestritten.

Der Journalist Haroldo Shetemul, der viel über diesen Mord recherchiert hat, sagt: „Gabriel Garcia Marquez hätte sich keine unglaublichere Geschichte ausdenken können.“ In der lateinamerikanischen Literaturwissenschaft nennt man dies „magischen Realismus“. Doch was ist Wahrheit in Guatemala?