Die neue Perspektive wirkt wie ein Schock

Seit das neue Insolvenzrecht in Kraft ist, sind die Schuldnerberatungen völlig überlaufen. Kein Wunder, sind doch 150.000 Haushalte in Berlin überschuldet. Wie sich eine Schuldnerin durch das neue Recht schlägt, berichtet  ■ Corinna Budras

Sybille Schreiber (Name geändert) ist ein ganz normaler Fall. Einer unter vielen. Sagt ihr Schuldnerberater. Der unbeteiligte Beobachter sieht das ähnlich: Eine ganz normale junge Frau, die in der Ecke des kleinen Beratungsbüros sitzt – mit dem Rücken zur Wand sozusagen – und etwas zurückhaltend ihre Geschichte erzählt. Ein Vorbild an Bescheidenheit, könnte man meinen.

Doch davon hat ihr Schuldnerberater nicht gesprochen. Er meint, wie gesagt, sie sei der typische Fall einer ganz normalen Schuldnerin. Sybille Schreiber verkörpert den Typ Schuldner, der jetzt zu den Schuldnerberatern strömt, seitdem auch Privatleute durch das neue Gesetz das Insolvenzverfahren einleiten können. Sie war selbständig und ist damit kräftig auf die Nase gefallen. Sie hat es selbst einmal versucht und ist daran gescheitert. So wie viele. Sie hat Sportveranstaltungen und Messen organisiert – auch schon vor ihrer Selbständigkeit. Da hatte sie noch die Sicherheit einer Anstellung genossen, hatte aber gleichzeitig schon erkannt „wie man es besser machen kann“.

So hat sie sich mit einem Partner selbständig gemacht und es auf ihre Weise versucht. „Das war mein Verhängnis“, sagt sie heute über ihre Versuche, ihre Erfahrungen in eigenen Veranstaltungen unterzubringen. Das tragische daran: Ihr Konzept ging auf. Die Messen und Sportveranstaltungen, die sie organisierte, waren gut besucht. Probleme bereiteten hauptsächlich Aussteller mit fragwürdiger Zahlungsmoral, die ihre Standmieten nicht zahlten. Gleichzeitig mußte sie selbst die Miete an die Stadt, das Geld für Kulissen und Strom zahlen.

Sie kam aus den Anfangsschwierigkeiten nie heraus. Kaum hatte sie die eine Rechnung mühsam abgestottert, flatterte schon die nächste ins Haus. An den ersten Mahnbescheid kann sie sich heute noch immer erinnnern: „Das war ein großer Schock.“ Irgendwann kam dann der Gerichtsvollzieher.

Jetzt sitzt sie auf einem Schuldenberg von 120.000 Mark plus Zinsen und kommt von alleine nicht mehr runter. Das Schlimmste daran sei gewesen, Schluß zu machen. Die Hoffnung wurde ihr zum Verhängnis: „Die Arbeit hat mich voll ausgefüllt und ein bißchen Hoffnung hat man ja doch immer, daß es noch mal aufwärts geht.“ Hätte sich nicht irgendwann ein Kind angekündigt, hätte sie es noch viel länger ausgehalten.

Ein solches Verhalten sei ganz typisch für Selbständige, für die Durststrecken zum Geschäft gehören, bestätigt auch Wilfried Jahn von der Caritas Schuldnerberatung. „Für Selbständige ist es besonders schwer, zwischen einer Durststrecke und einer Wüste ohne Aussicht auf eine Oase zu unterscheiden“, so Jahn.

Die langersehnte Oase ist jetzt in Form der neuen Insolvenzordnung zumindest in Sichtweite gekommen. „Das neue Gesetz ist für mich der einzige Ausweg“, erkennt Sybille Schreiber, auch wenn diese Möglichkeit im Moment noch unvorstellbar erscheint. Zu lange hat sie sich schon mit dem Gedanken angefreundet, ein Leben lang in fremde Taschen arbeiten zu müssen. „Viele Schuldner, die manchmal schon jahrelang auf einem unüberwindbaren Schuldenberg sitzen, sind festgelegt in ihrer Aussichtslosigkeit. Da wirkt die neue Perspektive wie ein Schock“, bestätigt Jahn.

„Es ist fast zu leicht“, sagt die junge Frau nachdenklich und wirkt dabei wie einer ihrer 60 Gläubiger, die ihr Geld wahrscheinlich nie wieder sehen. Zu oft war auch sie Gläubigerin, die erfolglos auf ihr Geld gewartet hat.

Tatsächlich können sich laut Wolfgang Münzner, Geschäftsführer der Schuldnerberatung Julateg, einige Gläubiger gedanklich nur schwer von dem inzwischen liebgewonnenen 30jährigen Pfändungsanspruch trennen, der ihnen sonst zusteht – ohne jedoch wirklich das geliehene Geld zurückzubringen. So verweigern viele bei der außergerichtlichen Einigung in der ersten Phase des Insolvenzverfahrens die notwendige Zustimmung. Der Grund: Mangelnde Aufklärung über das neue Gesetz. Was die Gläubiger oftmals nämlich nicht bedenken: In vielen Fällen ist das außergerichtliche Einigungsverfahren für sie die einzige Chance, ihr Geld wenigstens in Bruchteilen wiederzusehen. „Früher sind die meisten Schuldner untergetaucht oder verbrachten den Rest ihres Lebens unterhalb der Pfändungsfreigrenze“, so Münzner.

Ein immenser Aufklärungsbedarf über das neue Insolvenzrecht herrscht auch bei den Schuldnern. Rund 150.000 Haushalte sind in Berlin verschuldet, die Beratungsstellen sind seit Monaten überlaufen. Inzwischen belaufen sich die Wartezeiten für eine Beratung schon auf sechs Monate. Sybille Schreiber hingegen befindet sich bereits in guten Händen. Seit September berät Wilfried Jahn seine Klientin, die erste Phase des Insolvenzverfahrens haben die beiden schon gemeinsam durchschritten – ergebnislos. Das Scheitern des außergerichtlichen Einigungsversuches, bei dem alle ihre 60 Gläubiger einwilligen müssen, war vorprogrammiert, denn sie hat ihren Gläubigern nichts anzubieten: Kein eigenes Einkommen, kein finanzielles Polster. Sie kann nur geben, was ihr die Zukunft bringt: Ein festes Gehalt nach ihrem Erziehungsurlaub – sofern sie eine Stelle bekommt. Auf so einen „flexiblen Nullplan“ haben sich die Gläubiger erwartungsgemäß nicht eingelassen – und werden es wohl auch nicht in der zweiten Phase tun. Dort wird vom Insolvenzgericht ein Schuldenbereinigungsplan aufgestellt, bei dem jedoch nur die Mehrheit der Gläubiger einwilligen muß.

Erst die dritte Phase kann für Sybille Schreiber das halten, was ihr das neue Gesetz verspricht. Im gerichtlichen Insolvenzverfahren wird ihr zukünftiges pfändbares Einkommen von einem Treuhänder verwaltet. Am Ende dieser Phase steht ihr dann ein neues schuldenfreies Leben bevor – wenn sie sich irgendwie durch die siebenjährige Wohlverhaltensperiode bringen kann. Während dieser Zeit werden an den Schuldner hohe Anforderungen gestellt – viele können das gar nicht durchhalten: Die Schuldner fristen für Jahre ein Leben jenseits der sozialen Realität: Keine weiteren Schulden, keine Straftaten, keine Schwarzarbeit. „Von einigen Gläubigern wissen wir, daß sie Detektive bestellen werden, um das Verhalten des Schuldners zu überwachen“, so Jahn. Für Sybille Schreiber kein Problem: „Wir haben nie auf großem Fuß gelebt“, beteuert sie aufrichtig. Auch scheint das Ziel am Ende des Verfahrens zu verlockend. In rund zehn Jahren könnte sie schuldenfrei sein. Wie normal das klingt.