Essig in den Adern

Birnen, Bockbier, Brombeeren – fast alles, was sich verflüssigen läßt, wird in dem kleinen Dorf Flein bei Heilbronn zu feinstem Essig vergoren. Der essigverrückte Winzer Robert Bauer gibt ordentlich Saures. Auf seinem Hof entsteht der einzige Aceto Balsamico außerhalb Italiens. Über ein schwäbisches Phänomen  ■ Eberhard Schäfer

Im Jahr 1968 entdeckten viele die Liebe zur Revolte. Robert Bauer entdeckte ein Faß. Eben hatte er das elterliche Weingut übernommen, als sich beim großen Kehraus in der hintersten Ecke ein winziges Fäßchen mit Tragegriff fand. „Das alte Glump“ (Gelumpe) stammte noch vom Vater.

Man erinnerte sich: Bauer senior hatte das hölzerne Behältnis bei der Heimkehr aus dem Krieg über die Alpen gebuckelt und zu Hause irgendwo abgestellt. Drinnen waberte eine dunkle Flüssigkeit mit der Konsistenz von Schweröl. Und sie verströmte ein intensiv süßsäuerliches Aroma. Eine Entdeckung mit Folgen, denn es handelte sich um Aceto Balsamico, den legendären Balsamessig aus der Region Modena in der Emilia Romana. Kaum hatte Bauer den Stopfen aus dem Faß gezogen, infizierte ihn der Essigbazillus acetobacter.

Unter den Winzerkollegen freilich genoß die exotische Sauce etwa soviel Ansehen wie die vermufften Talare bei den 68ern. Heimlich studierte der Jungwinzer die Rezepturen des edlen Saftes und begann, ebenfalls im Untergrund, mit der Herstellung. Lange ist's her. Heute regieren die 68er in Bonn, und „maitre vinaigrier“ Robert Bauer verkauft seine Essige an Spitzengastronomen und Gourmets in aller Welt.

Das Allerheiligste der Bauerschen Balsamicoproduktion ist die nach dem spanischen Sherryverfahren benannte Solera: mehrere Reihen übereinandergestapelter Fässer in verschiedenen Größen. Sie stehen mitten im Hof seines unauffälligen Anwesens, aber hinter schwäbischen Nobelkarossen und allerhand Gerätschaften versteckt, kann man sie leicht übersehen. Hier entsteht – ganz langsam – Bauers schwäbischer Balsamessig. Der einzige in Deutschland.

Einmal im Jahr findet an der Solera ein Ritual statt. Aus dem ältesten Faß, das mittlerweile 22 Jahre alt ist, wird ein Drittel des Inhalts in Flaschen abgefüllt, fertig zum Verkauf. Was im ältesten Faß fehlt, wird aus dem zweitältesten nachgefüllt; dieses kriegt neuen Stoff aus dem drittältesten, und so geht es weiter bis zum anderen Ende der Batterie, dem jüngsten Faß. Das wird einmal jährlich mit den Grundprodukten aufgefüllt.

Der Winzer vom Neckar arbeitet mit einer Halbweinmischung aus vergorenem Schwarzriesling und frischem, unvergorenem Saft aus Muskatellertrauben, beides aus eigenem Anbau. Mehr muß der Vinaigrier nicht tun. Die Essigbakterien im Faß infizieren das Mostgemisch und setzen damit die Gärung in Gang. Ein Jahr später wiederholt sich die Zeremonie. Und so fort.

Durch die Wandungen der Dauben, die Wind und Wetter ausgesetzt sind, verdunsten etwa tausend Liter jährlich. Derart konzentriert und „balsamiert“ durch den Kontakt mit dem Holz aus Eiche, Kastanie, Esche und Akazie, entsteht das weiche und doch intensive Aroma des Endprodukts. Ein Viertelliter Balsamessig aus dem Hause Bauer ist für 33 Mark zu haben. Wie können andere Hersteller dasselbe Produkt für Fünfneunundneunzig ins Supermarktregal stellen? Nichts einfacher als das: Man versetzt billige Essigsäure mit karamelisiertem Zucker und Gewürzen und nennt das Ganze „Aceto Balsamico“. Die Bezeichnung ist nicht geschützt. Nur mit dem zusätzlichen Terminus „tradizionale“ ist der Essig wirklich echt und über Jahre in der Fässerbatterie gelagert worden. Der Tradizionale steht für ein aufwendiges Herstellungsverfahren und darf, so gekennzeichnet, nur aus dem norditalienischen Städtchen Modena kommen.

Robert Bauer ist nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, auch nicht durch verpanschte Billigangebote. Sauer ist bei ihm nur der Essig. „Die Leute“, sagt er, „sollen bei Kühne, Hengstenberg & Co. mal lernen, daß es so etwas wie Balsamico überhaupt gibt, und dann bei meinem schmecken, warum der teurer ist.“ Ärgern kann er sich allenfalls über EU- Verordnungen. Neuerdings muß Essig nicht mehr fünf, sondern mindestens sechs Prozent Säure haben. „Unsinn!“ schimpft Bauer empört. „Mit fünf Prozent schmeckt er besser.“ Die Säure unterdrücke das Aroma.

Streng betrachtet, erklärt der 48jährige, dem man den Genußmenschen ansieht, ist Balsamessig gar kein Essig. Denn per Definition besteht Essig aus zweimal vergorenen Grundprodukten. Bei der ersten Gärung, der Weingärung, entsteht Alkohol. Der verwandelt sich bei der zweiten, der Essiggärung, in Essigsäure. Beim Balsamessig fehlt jedoch der erste Schritt. Der Fruchtzucker aus dem Traubensaft wird im Faß direkt in Essigsäure umgewandelt.

Bauer produzierte also schließlich seinen eigenen Balsamessig. Doch der Essigbazillus gab keine Ruhe. Bauer experimentierte weiter, nahm den Saft von Äpfeln und Ahorn, kochte ihn ein und ließ ihn ebenfalls in der Solera reifen. Seitdem umfaßt das Sortiment auch fruchtigen Apfel- und weichen, süßen, holzbetonten Ahorn-Balsamessig.

Dann war da noch das viele Obst auf den schwäbischen Hügeln. Bauer war felsenfest überzeugt, daß Obstessige besser schmecken könnten als die, die er gekostet hatte. 1990 schritt er schließlich zur Tat, in Flein fand die High-Tech-Invasion statt. Bauer ließ sich einen Essigfermenter nach großindustriellem Vorbild konstruieren. In Holland werden in solchen Anlagen bis zu 250.000 Liter Essig pro Tag produziert, bei Bauer ist die Anlage auf ein Miniaturformat reduziert, eine Art Essigpuppenstube.

Mit seinem Zauberapparat kann er nun endlich alle erdenklichen Grundprodukte – beim Obstessig ist es immer der reine Fruchtsaft – von der schwarzen Johannisbeere bis zum Champagner zu feinsten Essigen fermentieren. Computer- und sensorgesteuert, optimal eingestellt auf das jeweilige Grundprodukt, verwandeln sich Aprikosen, Heidelbeeren und Tomaten, aber auch Portwein, ja sogar Trockenbeerenausleseweine zu feinsäuerlichen Aromawundern.

Händlernachweis, Katalog, Essig- und Öl-Brevier mit Rezepten gibt's bei Robert Bauer, Heilbronner Str. 56, 74223 Flein, Fon (0 71 31) 25 16 62, Fax 57 32 88. Internet: http://www.acetoria.com

Preise: 250 cl Balsamessig aus der Solera 33 Mark, 250 cl Apfelbalsamessig 24 Mark, 250 cl Balsamessig aus Ahornsaft 29 Mark, 50 cl Balsamico, über zwanzig Jahre alt, 108 Mark

Eberhard Schäfer, 36, lebt in Berlin. Er hat Politologie studiert und arbeitet in der Jugendarbeit sowie als freier Autor. Sein Thema ist das Gute Leben.