Wolfszeit

Experten rechnen mit baldigem Auftauchen des europäischen Wolfes in der Lüneburger Heide – und mit dem Hochkochen von alten Vorurteilen in der Bevölkerung  ■ Von Heike Dierbach

Der böse Wolf

hat die Witterung aufgenommen. Sein zottiger großer Kopf fährt herum, die dunklen Augen erspähen die Beute. An Flucht ist nicht mehr zu denken. Große Pfoten setzen sich in Bewegung, rasend schnell prescht der massige Körper auf den Eindringling zu. Dessen verzweifelter Schritt zurück scheint den Wolf nur noch wilder zu machen, schon hebt er zum Sprung an, reißt das wildbezahnte Maul auf – und schlabbert mit seiner Zunge quer über das Gesicht der Reporterin. „Er will ,hallo' sagen“, sagt Ralf Neumann, Leiter der Tierpflege im Wildpark Lüneburger Heide, und dann, zum Raubtier gewandt: „Flocke, benimm dich!“ Versöhnlich schiebt die junge Alaskawölfin ihre nasse, kalte Schnauze unter die Jacke der Besucherin.

Das Jahrhundert der Wölfe

ist das zwanzigste in der Lüneburger Heide nicht – im Gegenteil. Die letzten freilebenden Wölfe wurden hier schon vor rund 150 Jahren ausgerottet. Flockes europäische Artgenossen sind heute nur noch in Wildparks heimisch. Aber das nächste Jahrhundert könnte wieder ihres sein: Experten halten ein baldiges Auftauchen des Europäischen Wolfes in der Lüneburger Heide für wahrscheinlich. Das Niedersächsische Landesamt für Ökologie hat eine Broschüre herausgegeben, um die Bevölkerung auf die Neuzugänge vorzubereiten. Denn Wanderwölfe, die seit Kriegsende nach Niedersachsen kamen, wurden erst auf traurige Weise aktenkundig – weil sie erschossen wurden.

Der letzte einsame Wolf

wurde 1982 in Südwinsen erlegt. Er war offenbar eines der wenigen Tiere, die es nach dem Bau der Mauer so weit nach Westen schafften. Vermutlich kam er aus Polen. Seit einem Schutzgesetz im Jahre 1993 ist der Wolfs-Bestand dort auf knapp 1000 angestiegen – und breitet sich nun nach Westen aus. In Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind bereits einzelne Tiere gesichtet worden. „Die Wölfe folgen einem alten Fernwechsel, der bis zu den Pyrenäen führt“, erläutert Forstingenieur Neumann, „ähnlich wie die Zugvögel.“ Gefährlich werden den Wandernden neben übereifrigen Jägern dabei vor allem die Autobahnen.

Ein Wolf im Schafspelz

war der Mensch dem „Canis lupus“ aber nicht immer. Den alten Germanen galt der Wolf noch als heilig, und auch die Römer verehrten die Tiere – hatte doch einer Sage nach eine Wölfin den Stadtgründer Romulus aufgezogen. „Mit der Zunahme von Ackerbau und Viehzucht aber wurde der Wolf zum Nahrungskonkurrenten“, berichtet Neumann. „Die Bauern hatten Angst um ihr Vieh“, und auch höhere Schichten waren nicht begeistert: Die Adligen sorgten sich um ihr Wild. Eine erbarmungslose Verfolgung begann.

Zwar war der Verlust einer Kuh im Mittelalter tatsächlich eine Katastrophe für eine Bauernfamilie. Doch daß hungrige Wölfe im Zweifelsfall auch Menschen „reißen“, ist eine Legende. Tatsächlich ist kein anderes großes Raubtier für den Menschen harmloser als Isegrim. Denn die jahrhundertelange Verfolgung hat die Wölfe gelehrt, einen großen Bogen um den Homo sapiens zu machen.

„Diese Furcht wird sogar vererbt“, beruhigt Ralf Neumann. Seit fünfzig Jahren ist denn auch weltweit kein einziger Fall mehr nachgewiesen worden, in dem ein Mensch von einem Wolf in freier Wildbahn getötet wurde.

Dem „Würger vom Lichtenmoor“

nützte das wenig. Über 100 Schafe und 65 Rinder, so erzählten sich die Heide-Bauern im Sommer 1948, soll der „mächtige Wolf mit seinem ungezügelten Blutdurst“ in drei Monaten gerissen haben. „Eine völlig absurde Menge“, erklärt Neumann, „so viel schafft ein einzelnes Tier nie.“ Ursache der hohen Zahl, vermutet der Forstingenieur, war wohl eher, daß die britischen Besatzer das Schlachten von Vieh bei hohen Strafen verboten hatten, Fleisch aber drei Jahre nach Kriegsende immer noch knapp war. Eine gigantische Treibjagd mit 1500 Teilnehmern suchte nach dem „Täter“ – vergeblich. Die Strafe ereilte ihn erst 1948 aus dem Lauf des 60jährigen Heidebauern Hermann Gsaatz. Der Kopf des „Würgers“ ist heute im Wildpark ausgestellt. Seit 1973 steht der Wolf in Deutschland unter Schutz.

Mit den Wölfen heulen

wird man zwar auch in der Lüneburger Heide nicht können. „Aber die Tiere könnten durchaus zu einer Attraktion für TouristInnen werden“, meint Dörthe Grimm, stellvertretende Geschäftsführerin des Fremdenverkehrsverbandes Lüneburger Heide, „ähnlich wie das Whale-Watching in anderen Ländern.“ Derartige Hoffnungen greifen dann doch zu weit, korrigiert Neumann, „man kann höchstens im Winter nach Fährten im Schnee suchen.“ Aber dabei bestehe bereits die Gefahr, die Wölfe zu stören.

Ein Rudel Wölfe

besteht aus fünf bis zehn Tieren, angeführt von einem Alpha-Rüden und einer Alpha-Fähe. Nur diese beiden paaren sich einmal im Jahr zwischen Dezember und März. Nach 62 bis 65 Tagen bringt die Fähe vier bis sechs Junge zur Welt. Älter als sechs wird nur jeder zwanzigste freilebende Wolf. Zootiere können allerdings bis zu zehn Jahre alt werden. Hauptnahrungsgrundlage des Wolfes ist Fleisch – von Würmern bis zum Rotwild. „Die Tiere sind sehr anpassungsfähig“, erklärt Neumann, „in den Vororten Roms ernähren sie sich auch aus Mülltonnen.“ Überhaupt sind Isegrims Ansprüche an seine Umwelt gering. Einst war er auf der Nordhalbkugel das verbreitetste Landsäugetier.

Daß der Mensch dem Menschen ein Wolf ist,

dafür kann Canis lupus nichts. Zwar lebt das Rudel in einer strengen Hierarchie – „ähnlich dem Sozialsystem der Menschen“, findet die Biologin Carina Vogel, die die Wolfsausstellung im Wildpark Lüneburger Heide konzipiert hat. Die Rangordnung wird aber stets aufs neue kontrolliert und demonstriert – „ohne daß es zu ernsten Auseinandersetzungen kommt“. Nur wenn jüngere „starke Persönlichkeiten“ selbst Alpha-Wölfe werden wollen, kann der Kampf blutig enden, vor allem unter den Weibchen. Wer unterliegt und trotzdem ein eigenes Rudel gründen will, muß das alte verlassen – und sich mit dem zum Beispiel aufmachen in die Lüneburger Heide.

Durch den Wolf gedreht

wird er hier hoffentlich nicht. „Die Jäger beachten das Jagdverbot“, verspricht Detlev Kraatz vom Landesjägerverband Niedersachsen, „das Problem sind eher panische Ängste der Bevölkerung.“ Die deutschen Jäger, die in den vergangenen Jahren eines der geschützten Tiere abgeschossen haben, rechtfertigten sich meist, sie hätten es es für einen Schäferhund gehalten – oder sie meldeten sich erst gar nicht. Das Land Brandenburg versucht nun mit einem „Wolfs-Ma-nagement“, seinen Bestand zu schützen. Es garantiert unter anderem einen finanziellen Ausgleich von Wolfsschäden für die Bauern. Solche Pläne gibt in Niedersachsen nicht, „mangels Problem“, so Gerd Janßen, Leiter der Forstabteilung im Landwirtschaftsministerium.

Die Wolfszeit

in Niedersachsen und im Hamburger Raum könnte aber schon in wenigen Tagen anbrechen – zumindest in der Phantasie der Bevölkerung. „Nach Veröffentlichungen dauert es oft nicht lang, und viele Leute erzählen, einen Wolf gesehen zu haben“, lacht Neumann, „aber meistens waren es dann doch nur Schäferhunde.“ Sollte der Wolf aber wirklich kommen, meint der Jäger und Forstingenieur, dann sind die Bedingungen, die das Tier bei uns vorfinden wird, letztlich auch ein Indikator für die Toleranz des Menschen – „und für seine Bereitschaft, ein anderes Großraubtier neben sich zu dulden“.

Wolfsausstellung im Wildpark Lüneburger Heide: täglich 9 Uhr bis 16.30 Uhr. Anfahrt per Direktbus um 9 Uhr vom ZOB, Bussteig 1.