„Geh' mal Zeit holen!“

■ Vom Luxus, die Sonnenuhr zu lesen, und dem weit verbreiteten Irrtum, die Sonne ginge unter, weil es 18 oder 20 Uhr ist / Eine Ausstellung in der Bibliothek Neustadt

Ein weit verbreiteter Irrtum besteht darin, daß die Leute glauben, die Sonne ginge unter, weil es 18 oder 20 Uhr ist. Die massenhafte Verbreitung von hochpräzisen Digitaluhren, die Existenz einer Braunschweiger Atom- und Funkuhr, die Manipulation der Zeit, die wir „Zeitumstellung auf Sommerzeit“ nennen – all das legt nahe zu vermuten, Uhren bestimmten unser Leben. Quatsch! Die Sonne definiert, wann es bei uns Mittag ist, und der Mittag definiert, wann es 12 Uhr ist. Und wenn die Sonne einen unerwarteten Hüftschwung machte, müßten wir unsere Atomuhren nachstellen. Darum sind die verläßlichsten Uhren, die es auf der Welt gibt, die Sonnenuhren. Seit gestern kann man sich in der Stadtbibliothek informieren, welche Wunderwerke Sonnenuhren sein können und staunen, daß sich ausgerechnet im überwiegend wolkigen Bremen mindestens 70 ortfeste und zahlreiche Reisesonnenuhren finden lassen. Die Dunkelziffer (!) liegt erheblich höher.

Flaniert man durch Bremen auf der Suche nach der Sonnenzeit, sollte man sich um ein unverkrampftes, ja anachronistisches (!!) Verhältnis zur Zeit bemühen. So zeigen alle alten Sonnenuhren in der Stadt, z.B. die vielleicht schönste im Schnoor (Haus Nr. 9), die „wahre Ortszeit“, eine Zeit, die sich weder um Zeitzonen noch Sommerzeit kümmert und darum zeitlos (!!!) schön ist.

Neuere Uhren dagegen wie jene am Marktplatz (Ratsapotheke) berücksichtigen den Einfluß der geographischen Länge bzw. der „Zonenzeit“, die erst 1893 aufgrund eines kaiserlichen Verdikts eingeführt wurde. Vorher hatte jeder Kirchturm seine eigene Ortszeit, ein funktionierendes System, bis die Eisenbahn kam und Leute mit unterschiedlichen Zeitvorstellungen aufeinandertrafen.

Nur eine einzige Uhr in Bremen zeigt die sogenannte „bürgerliche“ Zeit, die der Braunschweiger Atomzeit nahekommt. Diese Uhr befindet sich im Giebel des Hauses Feldstraße 26. Das Haus gehört Dieter Vornholz, dem Bremer Sonnenuhrguru, der die Neustädter Ausstellung organisiert und das Begleitheft geschrieben hat. Seine Sonnenuhr wirft keinen Schattenstrich, sondern einen Punkt auf verschlungene Schlangenlinien und kompensiert den unterschiedlichen Erd-Sonnenabstand und andere Komplikationen. Sie zeigt dem, der sich Mühe gibt, die mitteleuropäische Sommerzeit incl. Datum an.

Die Ausstellung stellt nicht nur eine Reihe von Bremer Sonnenuhren mittels Fotographien vor; dazu kommen Modelle selbstgebastelter und Nachbauten historischer Uhren, die man als Armreife, Fingerringe und Kreuzanhänger nutzen konnte. Pfiffigstes, aber im Alltag ein wenig unpraktisches Exemplar ist die Sonnen-Armbanduhr, aus deren Mitte ein spitzes Blech hochragt. Traditionell waren es übrigens Kompaßmacher, die Sonnenuhren anfertigten, und in der Tat konnte, wer Datum und Uhrzeit wußte, sich von der Sonnenuhr auch Norden anzeigen lassen.

Noch ein Irrtum: Wir werden heute zwar pausenlos mit Uhrzeiten gefüttert, aber Zeit gewinnen wir so nicht. Zeit gewinnen wir, während wir vor einer fast 400 Jahre alten Sonnenuhr am Dom (im Hof zwischen Dom und Glocke) stehen und ihr, sobald die Sonne durchkommt, eine Zeit abringen.

Die alten Römer schickten ihre Sklaven zum Zeitholen. Auch wir könnten die wertvolle Domzeit mit nach Hause nehmen. Es gibt kein schöneres Mitbringsel: „Schatz! Ich habe dir Zeit mitgebracht!“

BuS

„Sonnenuhren in Bremen“ – Ausstellung in der Bibliothek Neustadt, Friedrich-Ebert-Straße 101. Bis zum 23. März.