Reisen ohne Zeitgefühl

Nur das Hecheln der Hunde und das Ächzen der Schlitten durchdringen die Stille. Mit Schlittenhunden unter dem Nordlicht, auf den Spuren Jack Londons und der Goldgräber im Norden Kanadas  ■ Von Gerhard Willfahrt

Es heißt, daß zwischen einem guten Leithund und dem Musher, dem Schlittenlenker, eine Art telepathische Kommunikation besteht. Rusty besitzt diese Fähigkeit und nutzt sie schamlos zu seinem Vorteil. Zumindest ist er mir immer einen Schritt voraus. Gleich unsere erste Begegnung bei Sebastian, Deutschkanadier im Yukon- Territorium, ist bezeichnend. Gerade angekommen, wollen wir sofort die Hunde sehen, die uns in den nächsten Tagen begleiten. Hinter dem Haus überall heulende, bellende, uns stürmisch begrüßende Huskies. Aufregung total – und wir mittendrin. Nur ein brauner Hund liegt faul auf dem Dach seiner Hütte, die Umstehenden nicht eines Blickes würdigend. Genußvoll nimmt er ein Bad in der tiefstehenden Abendsonne, welche die Schneelandschaft rot eingefärbt hat. „Das ist Rusty, wenn du willst, kannst du mit ihm fahren – guter Leithund, aber ein Troublemaker.“ Mit säuselnder Stimme rufe ich seinen Namen. Keine Reaktion! Oder doch? Kurzes Heben der Augenlider und ein Blick, der einen zu durchdringen scheint. Das ist alles.

Der Yukon-Ofen, der abends die Hütte mit Wärme gefüllt hat, glimmt nur noch müde vor sich hin. Nun ist es kalt in der Hütte. Etwas Papier und Holz in den Ofen und zurück unter die warme Decke. Die Eisblumen an der Scheibe verlieren an Kontur und lösen sich schließlich völlig auf. Zeit zum Aufstehen. Zum Frühstück gibt es Eier und Speck im Haupthaus. Die anderen Gäste sind bereits da. Judith, eine quirlige Bankerin aus Frankfurt, und Harry aus Linz, den die Eindrücke der Romane Jack Londons aus seiner Jugendzeit nie ganz losgelassen haben. Keiner von uns ist zuvor mit Schlittenhunden gefahren. Aber alle wollen irgendwo Jugenderinnerungen wiederbeleben und nicht zuletzt ihre Abenteuerlust befriedigen.

Bei Tagesfahrten lernen wir, die ungestüme Energie der Hunde nur mit der Stimme zu bändigen. Die anfängliche Unsicherheit schwindet schnell. Wir machen halt an den heißen Quellen von Takhini, fahren über namenlose Seen und Flüsse, durch endlose kanadische Wälder aus Schwarztannen, Birken und Pappeln. Reisen ohne Zeitgefühl. Hirngespinste entstehen und verschwinden wieder. Zurückversetzt in die Welt der Jahrhundertwende während des großen Goldrausches, soll der Tag kein Ende nehmen. Das Virus hat uns voll erwischt. Morgen soll es für drei Tage in den Busch gehen. Geschlafen wird in einem Trapperzelt. Mit vollbepacktem Schlitten starten wir zum 37 Mile Lake. Beim Anschirren der Hunde ist mir einer weggelaufen – welcher wohl? Rusty!

Der Trail beginnt gleich hinter dem Haus. Er ist Teilstück des legendären Yukon-Quest, des härtesten Schlittenhunderennens der Welt, 1.000 Meilen Einsamkeit durch Alaskas und Kanadas Wildnis. Der Weg in einer Talsohle, umgeben von Bergen, führt über steinhart gefrorene Sümpfe stetig bergauf, immer tiefer in die Berge hinein. Gestern nacht hat es ein paar Zentimeter geschneit. Wir fahren durch eine Zauberlandschaft. Ein Elch streicht durch das Gebüsch und verschwindet hinter einem Vorhang aus Eiskristallen. Der frische Schnee dämpft alle Geräusche. Nur das Hecheln der Hunde und das Ächzen des Schlittens durchdringen die Stille. Seit Stunden kein Zeichen menschlicher Zivilisation.

Wir erreichen den langgestreckten See. Er liegt auf einer Hochebene, umgeben von dichten Schwarztannen. Oberhalb davon steigen die baumlosen Gipfel der Stifton Range empor. An seinem Ufer steht ein weißes mannshohes Stoffzelt, aus dem ein rostiges Ofenrohr ragt. Davor Unmengen Feuerholz, innen Betten aus roh behauenen Brettern. Eine Holzkiste dient als Tisch. Nachdem wir die Hunde versorgt haben, kommt Sebastian grinsend mit einer Axt ins Zelt: „Wißt ihr, wie man hierzulande Fische fängt?“ Zusammen gehen wir hinaus auf den See. Er hebt ein schneebedecktes Brett zur Seite, und ein Loch wird sichtbar. Schnell ist mit der Axt die frische Eisschicht durchschlagen, bis nur noch kleine Eisstücke im klaren Seewasser schwimmen. Angelschnur hinein und los geht es. Zug um Zug landet eine Seeforelle nach der anderen im Zelt. Das Abendessen ist gesichert. Sebastian weckt uns. Wir hören draußen die Hunde heulen. Vor dem Zelt erwartet uns ein berauschendes Schauspiel in stockfinsterer Nacht. Nordlichter! Vor uns die Hunde, die mit gestreckten Hälsen ein schauriges Wolfskonzert geben, über uns eine Darbietung, wie sie schwer mit Worten zu beschreiben ist. Ein zartes, flackerndes Licht schwebt in Wellenbewegungen am wolkenlosen Himmel. Gerade so, wie wenn ein durchsichtiger Seidenvorhang durch ein geöffnetes Fenster vom Wind gestreichelt wird. Die Farben wechseln mal abrupt, mal fließend zwischen zartem Grün, Rot und Weiß. Die Umrandungen des Lichtscheins leuchten heller, um dann Augenblicke später wieder auseinanderzugehen und zu verblassen. Ergriffen stehen wir in der eisigen Nacht. Das Heulen der Hunde verstummt. Ein finales Lichterfeuerwerk, und das Ganze endet jäh, ohne Spuren am Nachthimmel zu hinterlassen.

Schweigend geht jeder zurück ins Zelt. Es ist kalt, die Glieder werden starr. Das Lichtfeuer scheint wie bestellt, inszeniert: krönender Abschluß einer eindrucksvollen Reise in den winterlichen Norden. Später in der Nacht herrscht draußen bei den Hunden Aufregung. Wir holen den Unruhestifter mit ins Zelt. Nicht ohne vorher bei mir verschmust Streicheleinheiten einzufordern, macht er es sich am Fußende bequem. Rusty war's.

Infos und Buchung: Direkt bei BLUE Kennels (Whitehorse, Kanada) über D. Schütz, Westänner Bachstr. 3, 59457 Werl, Fon/Fax: (02922) 8 47 89

Saison: Dezember bis März, Preis: 1.898 Mark pro Woche

Infos: www.bluekennels.de