Eine Tourismuspolitik ist längst überfällig

■ Ein nationaler Tourismusrat könnte Maßstäbe setzen: für die Vernetzung von Ökologie, Wirtschaft und regionaler Entwicklung und für die Ausbildung touristischer Fachkräfte

Kein anderer Wirtschaftszweig kann sich derart auf die Treue seiner Kundschaft verlassen wie der Ferntourismus. Kein anderer tummelt sich in größeren politischen Freiräumen, jenseits ökologischer wie sozialer Verantwortung.

Er wächst und wächst und wächst...! Die Reisebranche ist heute einer der am schnellsten expandierenden Wirtschaftszweige weltweit. Die Zahl der Auslandsreisen hat sich seit 1971 mehr als verdreifacht. Immer weniger Konzerne teilen den Reisemarkt unter sich auf. Reiseveranstalter, Fluggesellschaft, Vertriebssystem, Hotelkette und Autovermietung sind längst über nationale Grenzen hinweg zu effizient wirtschaftenden Multis verschmolzen. „Das Tempo, mit dem sich die Besitzverhältnisse in der europäischen Touristik wandeln, erreicht inzwischen gelegentlich Überschallgeschwindigkeit“, stellte das Branchenblatt fvw International kürzlich fest.

Doch obwohl die Reisebranche mit 10,7 Prozent zum weltweiten Bruttosozialprodukt beiträgt, mit 635 Milliarden US-Dollar die bedeutendste Steuereinnahmequelle darstellt und 255 Millionen Menschen einen Arbeitsplatz bietet, wird sie politisch kaum reflektiert. Dieses Defizit fällt um so gravierender aus, wenn man die ökologischen und soziokulturellen Auswirkungen des Tourismusbooms betrachtet. Ein im Auftrag des Auschusses für Fremdenverkehr erstellter Projektbericht stellt der deutschen Tourismuspolitik ein schlechtes Zeugnis aus: Das Fehlen eines Orientierung gebenden tourismuspolitischen Leitbildes und eines entsprechenden Konzepts mache sich in problematischer Weise bemerkbar.

Tourismus wird als wirtschaftliches Problem gesehen. Wissenschaftliche Arbeiten beschäftigen sich demzufolge mit Vermarktungsstrategien, Erhebung von Kundenprofilen und Marktanalysen. Die herkömmliche Ausbildung im Tourismus produziert wirtschaftlich effizient arbeitende Kräfte für den Kampf am Counter.

Dabei wird „die Bewältigung künftiger Probleme in hohem Maße davon abhängen, inwieweit die Beschäftigten über Schlüsselqualifikationen wie Lernfähigkeit, Kreativität, Planungsvermögen, Kooperationsbereitschaft, ökologisches Grundwissen verfügen“, meint Ute Dallmeier vom Deutschen Touristik Institut (DTI) in München. Pflicht und Schuldigkeit der touristischen Anbieter müßten eingeklagt werden. Denn allein vor dem Hintergrund des „Umsatzmachens“ sei das Touristikgeschäft ein Hurengeschäft. Drei F prägten den Umgang des Sales Managers mit Mensch und Natur in den Zielgebieten: „Find him, Fuck him, Forget him“. Nachhaltigkeit im Tourismus wird daher ohne gravierende Änderung des Ausbildungsprofils der Mitarbeiter nicht möglich sein.

Das Drehen an der Provisionsschraube und der Ausbau von Direktvermarktungskanälen (Internet, Call-Center) haben nicht nur Einfluß auf die Arbeitsbedingungen in den Reisebüros, sondern auch auf die Präsentation der Reiseangebote. Egal ob Last Minute oder All inclusive, die Entscheidung des Kunden für seinen Trip ins Urlaubsparadies fällt immer kurzfristiger. Für eine tiefergehende Reisevorbereitung bleibt kein Platz. Kein Problem. Denn im Schulterschluß mit den Versicherungen garantieren die Anbieter einen sorgenfreien Urlaub. Und den haben wir uns schließlich verdient, oder? Das Recht auf uneingeschränktes Reisen will keiner zur Diskussion stellen.

Hier gilt es anzusetzen, wenn das Prinzip Nachaltigkeit im Tourismus mehr bedeuten soll als grüner Etikettenschwindel. Dabei muß der Anspruch auf uneingeschränktes Reisen in gleichem Maße zur Diskussion gestellt werden wie alle andere Formen des Konsums.

Natürlich ist dazu auch eine kritische, international geführte Tourismusdebatte erforderlich. Doch auf deren – zudem noch möglichst verbindliche – Ergebnisse zu warten, droht eher einem Aussitzen des Problems gleichzukommen. Diesen Eindruck jedenfalls legen die Reaktionen auf den bundesdeutschen Vorstoß für Regulierungsmechanismen zum nachhaltigen Tourismus im Rahmen der Biodiversitätskonvention nahe (Mai 1998 in Bratislava).

Was liegt da näher, als mit einer konstruktiven nationalen Initiative im Land der Reiseweltmeister anzufangen: der Einrichtung eines Tourismusrates in Deutschland. Dessen Aufgabe ist schnell beschrieben: spezifische, regionale Überprüfung touristischer (Fehl-) Entwicklungen, zielgerichtete Ausarbeitung von Lösungsvorschlägen und damit nicht zuletzt kritische Verbraucherberatung. Eine zielgenaue Überprüfung erscheint uns deshalb erforderlich, weil kaum ein anderer Konsumbereich bei der Bewertung von Pro und Contra so sehr auf Einzelfallprüfungen angewiesen ist.

Wer wäre zu beteiligen an einem nationalen Tourismusrat? Selbstverständlich die Großen der Branche, aber ebenso die wachsende Zahl „alternativer“ Reiseveranstalter, die zwar im Regelfall nur Nischenanbieter sind, aber gerade wegen ihrer spezifischen Erfahrungen wertvolle Beiträge zur Problemlösung beitragen können. Zu beteiligen wären Nichtregierungsorganisationen, aus dem Umweltbereich ebenso wie aus der Menschenrechts- und generellen Entwicklungsthematik. Daneben unabhängige Fachwissenschaftler und nicht zuletzt Vertreter staatlicher Stellen, die – wie das Bundesumweltministerium und Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (und GTZ) – nicht nur breite fachliche Erfahrungen mit dem Tourismus gesammelt haben, sondern die erheblich vom Diskurs eines nationalen Tourismusrates profitieren könnten: zum Beispiel mit Blick auf die Vergabe von Fördergeldern in der Entwicklungszusammenarbeit und den zukünftigen deutschen Beitrag in der internationalen Tourismusdebatte.

Getreu dem bewährten Muster anderer Räte wäre das Gremium paritätisch zu besetzen, aufgeteilt zwischen wirtschaftlichem und rein fachlichem Interessenhintergrund. Der Beirat sollte sich eine Geschäftsstelle leisten, die von allen Seiten mögliche Diskursvorschläge aufbereitet.

Natürlich würden Kosten entstehen. Aber wären die nicht leicht abzudecken, wenn auch nur eine Mark Obulus auf jede Auslandsreise erhoben würde, die bei Anbietern in Deutschland gebucht wird? Zu bezahlen zur einen Hälfte vom Anbieter, zur anderen vom Urlauber. Da bliebe sogar noch Geld übrig, um mustergültige Beispiele für einen nachhaltigen Tourismus zu unterstützen. Yörn Kreib und Jürgen Wolters