Berge des Schicksals...

...oder wie der Mythos sich in der Katastrophe erholt. Die touristische Sehnsuchtswelt der Freiheit und Weite wird zur „Falle“. Der ewige Kampf zwischen Natur und Technik verlangt nach immer neuen, heroischen Akten. So schneereich war noch kein Medienwinter  ■ Von Georg Seeßlen

Was ist der „Sinn“ einer Katastrophe? Eben dies: Daß sie eine Suche nach dem Sinn auslöst. Es gibt die pragmatische Antwort: Der Sinn einer Katastrophe ist, daß wir lernen, wie man es anstellt, daß sie sich nicht wiederholt. In einem amerikanischen Katastrophenfilm wie, sagen wir, „Flammendes Inferno“ brennt ein gewaltiges Hochhaus zwei Stunden lang, nur damit am Ende Steve McQueen die Erleuchtung formulieren kann: Die Architekten müssen bessere Feuerleitern einplanen.

Es gibt die Antwort der Emotion: Der Untergang der „Titanic“ hat den Sinn, nichts Triviales an die Liebe heranzulassen. Es gibt die psychologische Antwort in einer weißen und in einer schwarzen Art: In der weißen Art ist der Sinn der Katastrophe die Erzeugung von Mitleid, in der schwarzen Form geht es um den sadistischen Triumph, daß es andere erwischt hat. Es gibt die politische Antwort: Der Sinn der Katastrophe ist, daß wir zusammenrücken, daß wir in der heroischen Rettertat und im massenhaften Unterstützertum (und sei's durch eine kleine Spende) verlorenes Gemeinschaftsgefühl wiedergewinnen. Wenn's schlimm kommt, dient die Katastrophe auch der Etablierung der einen oder anderen „Führer- Gestalt“.

Strafe Gottes und Buße für den Fortschritt

Die Katastrophe zieht wie magisch die Systeme der Macht an; die Politik, das Militär, die Kirche, die Wissenschaft. Es gibt die biblische Antwort: Der Sinn der Katastrophe ist die Strafe Gottes; sie ermöglicht das Opfer, die Buße, die Erlösung (jedenfalls für die Auserwählten), sie ermöglicht auch das „Wunder“ der Rettung. Und es gibt die mythische Antwort: Das Schicksal, die ideologische Form der bürgerlichen Transzendenz, verbindet sich mit der Natur, der ästhetischen Form der bürgerlichen Transzendenz, um einen negativen Flash der Erhabenheit zu ermöglichen. In der Katastrophe begegnen sich das Private der Biographien und das große Ganze, der Zufall und die Prädestination, durch den Tod geheiligt. Schließlich gibt es noch die kulturpessimistische, die Antwort der geistigen und materiellen Modernisierungsverlierer: Der Sinn der Katastrophe ist einerseits die Strafe für den Fortschritt. Und andrerseits bestraft die Katastrophe die Menschen, denen es viel zu gut geht. Kurzum: Katastrophen sind so randvoll mit Sinn, daß man sich fragen mag, warum es nicht noch viel mehr davon gibt.

Die einfachste Antwort ist natürlich: Weil die Medien die mythologische Kontrolle über die Katastrophen übernommen haben. Sie produzieren einerseits so viel Katastrophenphantasien, daß gelegentlich eingesetzte „echte“ Katastrophen als Wirklichkeitsrest im Strom der Bilder und Erzählungen ausreichen, während andererseits mythologisch weniger ergiebige Katastrophen ausgeblendet werden können. Die alltägliche Katastrophe (der Verkehrstoten z.B.) versendet sich als metaphorische Peanuts; wir konzentrieren uns auf die Katastrophe als Großereignis im ewigen Match der Gegenwart gegen die übrigen Zeiten; die Vergangenheit schlägt zurück, wenn Flüsse über die Ufer treten, Deiche brechen, Tornados „wüten“ oder Lawinen zu Tal „donnern“; die Zukunft verschließt sich, wenn Ozeanriesen untergehen, Zeppeline oder Weltraumshuttles explodieren oder Hochgeschwindigkeitszüge entgleisen.

Es ist der ewige Kampf zwischen der Natur und der Technik, in dem der Mensch in der Katastrophe, als sei er plötzlich von beidem im Stich gelassen, ja förmlich gehaßt, das Leben lassen muß. Es ist der Kampf zwischen der gebärenden und der phallischen Kraft, den immer die „Mutter“ Natur gewinnen muß, weil nur sie den Tod umfaßt. In der Katastrophe rächt sie sich für ihre Vergewaltigung mit einem machtvollen Todesorgasmus, der uns erschauern läßt. Wollüstig und angstbebend. Die Katastrophe hat für einen erhabenen Augenblick das Gesetz des Vaters außer Kraft gesetzt und steckt uns für kurze Zeit mit ihrer Revolte an. Darum sind die Rettungsversuche nach einer Katastrophe immer „fieberhaft“.

Dann aber, mit fortschreitender Ordnung in den Bergungsarbeiten, wird das Gesetz rekonstruiert. Das „Ausmaß“ der Katastrophe wird vermessen, die Politiker vergessen schnell ihr selbstwidersprüchliches Versprechen, „schnell und unbürokratisch“ zu helfen, die Taktik des Helikoptereinsatzes wird wichtiger als die Schmerzen der Opfer. Das Chaos wird geordnet, da und dort verzeichnet man „Siege“ im „Kampf gegen die zerstörerische Natur“. Vielleicht war die Technik am Anfang der Katastrophe irgendwie „schuld“. An ihrem Ende sehen wir sie nur als Rettung. Die Katastrophe ist ein kreisförmiges Geschehen.

Die mythische Katastrophe des Jahres 1999 besteht aus einer Folge von schweren Lawinenabgängen. Weil die Natur um so tückischer wird, je sicherer der Sieg der Technik (in Form von „Lawinenverbauungen“ etwa) scheint, kommen diese Lawinen genau dort herunter, wo man „es nicht vermutet hätte“, ja, Höhepunkt der Gemeinheit, auf „vermeintlich lawinensicheres“ Bau- und Tourismusgelände. Wieder reagieren wir mit einem Knäuel der Antworten auf die katastrophale Sinnfrage. Noch schneller als gewohnt ideologisiert, mythisiert und, ja, nationalisiert sich der Diskurs. Multimedial die Gegenwärtigkeit jenes Lawinenspezialisten aus Bayern, der betont, daß „bei uns“ so etwas wegen der hervorragenden Präventivmaßnahmen nicht geschehen könne. Wiederkehrend auch die Frage bei den inflationären Hörertelefonsendungen im Rundfunk, ob denn das österreichische Militär nicht mit den Rettungsaufgaben „überfordert“ sei und man nicht die Bundeswehr zur Verstärkung schicken solle (die Schweizer sollen sehen, wo sie mit ihrer Neutralität bleiben). Und schuld haben sie alle: Die Tourismusmanager mit ihrer Geldgier und dem Erschließungswahn, die Ski-Maniacs in ihrem Zweit- und Dritturlaub (ist nicht die Schneelawine des Berges eine Antwort auf die Blechlawine, mit der sein Tal geschändet wurde?), die „Unverantwortlichen“, die die Pisten verlassen, die Medien, die Zersiedler der Alpenregionen, die Ignoranten, die die Alarmzeichen nicht sehen. Und so weiter.

Es ist die Metapher der „Falle“, die für die eingeschneiten und lawinengefährdeten Täler immer wieder verwendet wird. Die Berge haben uns angezogen, wie das magische Kristallicht die armen Bauern im Leni-Riefenstahl-Film „Das blaue Licht“. Sie haben uns verführt zu den kleinen weißen Räuschen, nun lassen sie uns nicht mehr los. Das Sehnsuchtsbild der Freiheit und Weite kippt in die schiere Klaustrophobie, und während die einen noch panisch das Tal verlassen wollen, drängen unbeirrbar die anderen schon wieder, um in es hineinzugelangen. Man hat schließlich dafür bezahlt! Nein, das genügt nicht. Man fühlt sich von der Katastrophe so angezogen, wie sich offenkundig manche Autofahrer von Staus angezogen fühlen. So rasch geschieht es selten, daß uns das eigene Verhalten als Sekundärkatastrophe vor Augen geführt wird.

So schneereich war noch kein Medienwinter. Zwei Bildwelten wechseln sich beständig ab: das Skifahren und die Lawinenkatastrophe. In der einen Bildwelt brettern unentwegt Männer und Frauen um biegsame Stangen herum, um im Ziel dann endlich mit gekonntem Beinschwung ihre Ski-Marken in die Kameras zu halten, während andere auf ihren Skiern über Schanzen zu Tal springen und dabei schon im Sprung ihre Ski-Marken präsentieren. Weniger Glückliche müssen so lange auf Skiern durch den Schnee laufen, daß sie am Ende zu erschöpft sind, um noch ihre Ski-Marken in die Kameras zu halten. Manche von ihnen müssen sogar noch zwischendurch mit einem Gewehr schießen. Der Jubel ist jedoch immer grenzenlos. In der anderen Bildwelt begräbt der Schnee, dem man attestiert, „so fest wie Beton“ zu werden, Menschen und Häuser unter sich. Niemandem scheint so recht aufzufallen, daß in diesem Nebeneinander der beiden Schnee-Bildwelten eine unheilbare mediale Psychose steckt. Die gleiche „Industrialisierung“ des Schnees wird in der einen beklagt und in der anderen heroisch überhöht.

Soll nun also der Kapitalismus wieder an allem schuld sein? Das sowieso, aber das bringt uns nicht viel weiter. Denn der Wintersportmarkt kann die Lust nur benutzen, nicht aber sie erzeugen. Sie steckt tiefer in uns als die Abfolge von Dauerwerbeveranstaltungen als Leistungsshows einerseits und mehr oder minder lustvolle Katastrophenbilder andrerseits. In den zehner Jahren, als Arnold Fanck mit seinen „Bergfilmen“ reüssierte, hat Siegfried Kracauer ein sonderbares Phänomen beobachtet: Die Berge, so schrieb er, waren „lange vor dem ersten Weltkrieg zum Glaubensbekennntis vieler Deutscher“ geworden, und er berichtete von den Gruppen der Studenten, die „die langweilige Hauptstadt verließen, um in den bayrischen Alpen ihrer Leidenschaft zu frönen“. Und „im erhabenen Gefühl, es Prometheus gleichzutun, erklommen sie einen gefährlichen Kamin, rauchten dann ruhig ihre Pfeifen auf dem Gipfel und sahen mit unendlichem Stolz auf die Talschweine herab – die plebejischen Massen, die sich nie in jene hehren Höhen begeben würden. (...) Ihre Haltung lief auf einen heroischen Idealismus hinaus, der sich, aus Blindheit gegenüber substantielleren Idealen, in touristischen Heldentaten austobte.“

Von Gipfelstürmern und Talschweinen

Diese Bewegung hat sich, durch die Kriege nur unterbrochen, fortgesetzt; aus der Gruppe freilich ist die medial und technologisch verstärkte Masse geworden, und die Rollenverteilung zwischen Gipfelstürmer und Talschwein vollzieht sich in immer größerer Geschwindigkeit.

Wintersport ist zu einer blitzraschen Folge von Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung geworden. Sein Sinn liegt gerade in der Vermischung der Erhabenheit des Augenblicks und dem dumpfen Verschwinden in der Masse. So produziert das Nebeneinander von Leistungsshow und Katastrophenbild im Schnee doch wieder Sinn; die Katastrophe ist zugleich der Moment tiefster Erniedrigung und Rekonstruktion der Erhabenheit. Sie gibt dem Berg den symbolischen Wert zurück, den er unter dem Ansturm eben jener Massen zu verlieren droht, deren Mitglieder in den Augenblicken des weißen Rausches gleichsam auf sich selbst herabschauen wollen.

Der Massentourismus, sagen diese Bilder und ihre Kommentierungen, ist eine Katastrophe für den Berg, die dieser mit einer Katastrophe unter den Massentouristen beantwortet. Wie 1910, wie in den Heimatfilmen der fünfziger Jahre, ist daher der Berg nicht nur ein mythisches Subjekt, an dem sich Läuterung und Bewährung erweisen, ein wahrer Glaubensersatz, der dem völkischen Denken nur allzu recht kam, sondern auch ein gleichsam natürliches Zeichen gegen die Demokratisierung der Wünsche. Noch einmal schauen wir, zur Strafe, auf uns selbst herab.