Digitale Amnesie

Wo sind all die Daten hin? Wo sind sie geblieben? Galileo Galileis Briefe kann man heute noch lesen. Aber was ist aus der E-Mail von letzter Woche geworden? Der Info-Müll wächst mit jedem neuen Rechner an  ■ Von Tilman Baumgärtel

Meine erste Bekanntschaft mit digitaler Amnesie machte ich, weil mich eine Freundin um einen einfachen Gefallen bat. Isabella suchte ein Thema für ihre mündliche Abschlußprüfung an der Berliner Hochschule der Künste. Weil sie als angehende Graphikdesignerin viel vor dem Computer saß, hatte sie die Idee, sich mit dem graphischen Interface des Macintosh-Rechners zu beschäftigen, mit dem sie täglich arbeitete. Das Interface – das ist die kuriose Collage, auf die heute die meisten Computernutzer sehen, wenn sie ihren Computer anschaltet: eine virtuelle Schreibtischplatte („desktop“), auf der ein Mülleimer, eine Uhr und ein Kalender stehen. Auf der sich plötzlich Fenster („windows“) öffnen, „Ordner“ „abgelegt“ oder Drucker „installiert“ werden können. Mit der man Texte „verarbeiten“ oder im Internet „surfen“ kann.

Wenn man anfängt, sich über das graphische Interface Gedanken zu machen, merkt man schnell, was für ein seltsamer Metaphernsalat da wuchert. Trotzdem sind es diese kleinen visuellen Symbole und „Icons“, die den Computer in den letzten fünfzehn Jahren zu dem Massenmedium gemacht haben, das er heute ist. Ohne das graphische Interface würden wir noch heute vor einem blinkenden, grünen „C:/‘“ auf dem schwarzen Monitor sitzen und uns überlegen, welchen kryptischen Befehl einer mysteriösen Programmiersprache wir eingeben müssen, um das Gerät dazu zu bringen, etwas für uns zu tun.

Mitte der 80er Jahre kamen eine Reihe von Computern mit graphischem Interface auf den Markt. Aber es war ein einziger Rechnertyp, der den Standards für alle GUIs bestimmt hat, die wir heute kennen: der kleine Macintosh- Computer von Apple, der ausgerechnet im Orwell-Jahr 1984 in die Geschäfte kam. Der Mac war nicht nur in einem Chassis untergebracht, das heute als einer der Höhepunkte des Produktdesigns der 80er Jahre gelten kann. Auch sein „Inneres“, seine Software, war überlegt gestaltet. Das verständliche und oft humorvolle Interface- Design erlaubte einen intuitiven Umgang mit dem Computer. Statt bibeldicke Gebrauchsanleitungen zu wälzen, konnte man beim Mac durch einfaches Herumklicken mit der Maus erste Resultate erzielen. (Hacker hassen dafür übrigens bis heute die Apple-Computer, weil sie ihre Technik hinter einer „Blümchentapete“ verstecken...)

Bömbchen beim Systemabsturz

Die Metaphern und Symbole des „Mac Classic“, wie er heute genannt wird, haben Legionen von Computer-Analphabeten zu Computer-Usern gemacht. Man kann sagen, daß die kleine Sanduhr, die komischen Geräusche („ploink!“) und sogar die Bömbchen, die einen Systemabsturz anzeigen, die komplexe, mühsame Computertechnik humanisiert haben. Man kann freilich mit genausoviel Recht einwenden, daß dieses Interface seine Benutzer weiter normalisiert und dem Computer angepaßt hat.

Andere Details scheinen dabei in Vergessenheit geraten zu sein: War der Monitor des MacClassic schon in Farbe gewesen, oder war er noch schwarzweiß? War die Textverarbeitung vor-installiert? Und wie hieß das Zeichenprogramm, das mich damals sehr beeindruckt hat? In den 80er Jahren stand das beige Kistchen bei vielen Freunden und Bekannten im Arbeits- oder Schlafzimmer. Also dachten wir, daß es nicht schwierig sein kann, heute noch einen dieser Rechner aufzutreiben. So lernte ich das Phänomen kennen, das ich digitale Amnesie nenne. Um es vorwegzunehmen: Wir haben keinen „MacClassic“ gefunden. Obwohl wir Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben, war keiner dieser Computer mehr aufzutreiben. Wir begaben uns auf eine Odyssee durch Computerlabore, Fachgeschäfte und Berliner Trödelläden, und wie bei jeder Odyssee kamen wir zum Schluß wieder da an, wo wir angefangen hatten: bei unseren Erinnerungen an „die Maschine, die die Welt verändert hat“, wie das Time Magazine den Mac 1994 in einem Jubiläumsartikel genannt hat.

Wir haben in dieser Zeit eine Menge dunkler, staubiger Kellerräume und Gerätelager besichtigt. Besonders an der Hochschule der Künste fanden sich wohlmeinende Systemadministratoren, Hausmeister und Tutoren, die sich ganz sicher waren, daß irgendwo im 2. Stock „noch ein paar von den alten Macs“ stehen müßten. Es war nie einer da. Einige der Langzeitstudenten konnten sich noch genau daran erinnern, daß es an der Uni „vor ein paar Jahren“ gar keine anderen Computer als die kleinen Macs gab. Wann das gewesen war und wohin die Rechner verschwunden waren, wußte allerdings niemand.

Als wir in der „wirklichen Welt“ keinen Mac fanden, begannen wir im Internet zu suchen. Aber auf der Website von Apple war noch nicht mal ein Bild des Gerätes zu finden, geschweige denn detaillierte Informationen über das Interface von 1984. Das Beste, was zu dem Thema existierte, war die Homepage eines Computerfreaks, der im Netz Bilder und Beschreibungen von alten Rechnern gesammelt hatte. Dort fanden sich immerhin einige technische Informationen – und ein Bild im Paßfotoformat.

Wenn ein Computer, der einst zur Grundausstattung einer gut geführten Jugendwohnung gehörte, zehn Jahre danach nicht mehr aufzutreiben ist; wenn im angeblich uferlosen Wissensspeicher Internet kein brauchbares Bild von dem Kasten zu finden ist – dann stellt sich die Frage, was mit all den anderen Rechnern passiert, mit denen im Augenblick Daten verarbeitet werden. Und vor allem: Was mit diesen Daten passiert, wenn die Rechner, die heute im Gebrauch sind, den Weg des Macintoshs gegangen sind...

Was passiert mit Bits und Bytes, wenn sie alt werden? Überleben sie auf anderen Datenträgern? Oder sterben sie mit den Computern, auf denen sie erstellt wurden? Im Augenblick spricht viel dafür, daß der größte Teil der Daten, die heute mit Computern erzeugt und gespeichert werden, in einer nicht allzu fernen Zukunft nicht mehr zugänglich sein werden. Bis vor kurzem behaupteten „Computer- Gurus“ noch, daß digitale Information ewig sei, weil sie nur aus Nullen und Einsen besteht und nicht aus Materie, die früher oder später verfallen muß. Inzwischen mehren sich die Anzeichen dafür, daß ein auf gutem Papier gedrucktes Buch alle digitalisierten Daten überleben wird.

Die Gesetzestafeln des Hammurabi aus dem 17. Jahrhundert v. Chr. sind heute noch genauso lesbar wie die Briefe des Galileo Galilei aus dem 17. Jahrhundert n. Chr. Aber eine Magisterarbeit, die 1990 auf einem damals handelsüblichen PC geschrieben wurde, ist heute schon verschollenes Kulturgut: Mein neuer Computer kann die 5-Zoll-Disketten, auf denen die Arbeit gespeichert ist, nicht mehr lesen. Und der neue IMac-Computer von Apple hat überhaupt kein Diskettenlaufwerk mehr!

Dieser große Systemcrash betrifft alle Bereiche des öffentlichen Lebens, weil sie alle inzwischen computerisiert sind. Es besteht die Gefahr, daß riesige Bereiche der Kultur im „Mülleimer“ auf dem Computer-Desktop verschwinden. Wie soll man in Zukunft die Briefwechsel von Schriftstellern veröffentlichen, wenn sich alle nur noch E-Mails schicken? Den Historikern der Zukunft könnte das ausgehende 20. Jahrhundert als eine dunkle Epoche erscheinen, weil die digitalisierten Informationen, die unsere Zeit beschrieben, irgendwann Opfer eines neuen Betriebssystems geworden sind. Liebe Zuschauer, wegen der Einführung von Windows 2001 unterbrechen wir an dieser Stelle bis auf weiteres die Geschichtsschreibung...

Im Museum der schweigenden Rechner

Die Maschinen und Erfindungen, die die industrielle Revolution ausgelöst haben, wie die Dampfmaschine, Eisenbahn, Webstuhl, können heute zum Beispiel im Berliner Museum für Verkehr und Technik besichtigt werden. Die Geräte, die die postindustrielle Revolution des 20. Jahrhunderts möglich gemacht haben, sind zwar im selben Museum zu finden, doch während die historischen Maschinen in Berlin tagein, tagaus von Handwerkern vorgeführt werden, stehen die historischen Computer hinter Glas und schweigen uns an. Als ich während unserer Macintosh-Suche die zuständige Kuratorin anrief, erfuhr ich, daß der Erhalt der Software dieser Maschinen ihrer Meinung nach reine Zeitverschwendung sei: „Für so was interessieren sich nur Programmierer.“

Nicht nur die Software, auch die Hardware, die Datenträger und die Computer selbst haben eine dramatisch kurze Lebensdauer: Handelsübliche Disketten halten in der Regel fünf Jahre, eine normale Computer-Festplatte 20 Jahre – aber nur, wenn nicht vorher ein Systemcrash alles löscht. Optische Speichermedien wie CD- ROMs sollen laut ihrer Hersteller eine Lebensdauer von 20 bis 30 Jahren haben. Ob aber irgendein Computer in 30 Jahren noch CD- ROMs lesen kann, ist mehr als fraglich.

Während man diese technischen Probleme durch regelmäßiges Umkopieren und gute Pflege der Hardware wenigstens minimieren kann, wird die Situation bei Informationen, die im Internet veröffentlicht werden, vollkommen unübersichtlich. Denn hier kommen zum Problem der sich ununterbrochen verändernden Soft- und Hardware noch sich ständig verändernde Inhalte hinzu. Jeder Netzsurfer kennt das Phänomen der Websites, die von heute auf morgen nicht mehr zu finden sind. Der amerikanische Computerjournalist Steve Baldwin hat darum kürzlich die Vermutung geäußert, daß „das Netz von unsichtbaren Termiten gefressen wird, die auf ihrem kleinen Rücken unverständliche Fehlermeldungen mit sich herumtragen“.

Ob sich Netzpioniere heute noch daran erinnern, wie die erste Version der Suchmaschine Yahoo aussah? Oder die alte Homepage des Vatikan? Die Website des Weißen Hauses anno 1996? Oder die CNN- Online-Wirtschaftsmeldungen von letzter Woche? Bisher hat sich fast niemand Gedanken darüber gemacht, wie der totalen Informationsentropie im Internet beizukommen ist; die wenigen Projekte, die sich mit dieser Frage beschäftigen (wie Brewster Kahles „Internet-Archive“), sind bestenfalls Experimente und werden weder von akademischen Institutionen noch von staatlicher Seite unterstützt.

Ich selbst habe vor drei Jahren damit begonnen, über Netzkunst zu schreiben. Eine alte Spruchweisheit versichert uns, daß das Leben kurz, die Kunst jedoch lang sei. Aber allmählich glaube ich, daß meine Armbanduhr eine längere Lebensdauer haben wird als die meisten Kunstprojekte, über die ich seit 1996 berichtet habe. Da die deutschen Kunstmuseen die Netzkunst von Anfang an systematisch ignoriert haben, sind als Resultat davon jetzt die frühesten Arbeiten, die in Deutschland für das WorldWideWeb entwickelt wurden, nur noch in Bruchstücken oder schon gar nicht mehr vorhanden. Und es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird; von den deutschen Kunstmuseen ist jedenfalls – im Gegensatz zu einigen amerikanischen Institutionen – nichts zu erwarten.

Eine Patentlösung gibt es für die Fragen nach digitaler Amnesie nicht. Bis auf weiteres kann man nur raten, sich von allen Daten, die man dauerhaft aufheben will, einen Ausdruck auf Papier zu machen. Und wenn man noch einen alten Macintosh hat: aufheben und gut pflegen!