Die Reihenfolge macht's

■ Kinder eignen sich Sprachen an, wie sie laufen lernen: Schritt für Schritt. Erst die Muttersprache richtig können, dann klappt auch die Zweitsprache Von Jeannette Goddar

Es ist nicht schwer, ein Berliner, Hamburger oder Frankfurter Klassenzimmer zu besuchen und es mit einer gewissen Beunruhigung wieder zu verlassen: Umgangssprache ist Türkisch oder Arabisch; im Unterricht muß offiziell Deutsch gesprochen werden – das aber klappt oft kaum. Türkische Lehrer konstatieren unterdessen, das Türkisch der Schulkinder sei auch nicht besser als ihre deutschen Sprachkenntnisse.

Wie eklatant das Sprachenproblem in Gebieten mit vielen Einwanderern ist, läßt sich längst auch anhand von Zahlen belegen: Laut einer sogenannten „Sprachstandsmessung“ benötigt im Berliner Bezirk Wedding die Hälfte aller Erstkläßler zusätzlichen Sprachunterricht. 11 Prozent können dem Unterricht nicht folgen. (Siehe nebenstehenden Beitrag über „Das quotierte Klassenzimmer“) In den anderen Berliner Multikulti-Arealen in Kreuzberg oder Neukölln dürfte es nicht anders sein.

Nicht durchringen konnten sich Deutschlands Kultusminister, Bildungsexperten und Schulleiter bisher zu einem einheitlichen Konzept der Sprachvermittlung: Selbst in Kreuzberg, wo sechs von zehn Kindern an der Grundschule keine deutschen Eltern haben, diskutiert man bis heute: Kann man die Kinder und möglichst auch deren Eltern motivieren, sich auf deutsch zu unterhalten? Wie soll der Förderunterricht intensiviert werden? Und vor allem: Sollen Kinder ihre Muttersprache lernen?

An sechs Kreuzberger Grundschulen wird zweisprachige Alphabetisierung angeboten – über das Ergebnis ist man uneins, auch weil es auch ein ideologischer Streit ist, der geführt wird. „Es gibt kaum einem Punkt, an dem die Diskussion so stagniert wie bei der Muttersprache“, gesteht auch Kreuzbergs Stadträtin für Bildung, Hannelore May (Bündnis 90/Grüne).

In der vermeintlichen „multikulturellen Hauptstadt Berlin“ tut man sich besonders schwer – obwohl mit 14 Prozent Kindern nichtdeutscher Herkunft, die in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, Berlin das Schlußlicht unter den Regionen mit hohem Ausländeranteil darstellt. Spitzenreiter beim Muttersprachunterricht sind Hessen (49 Prozent) sowie Nordrhein-Westfalen (45 Prozent).

Dabei sind sich Wissenschaftler längst einig, daß Bilingualität als Chance begriffen werden kann – und sollte. „Wenn man Leuten rät, sich zu Hause auf deutsch zu unterhalten, werden schlicht Lebenswelten geleugnet“, sagt Petra Wagner, wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Berliner Schulversuchs zur zweisprachigen Alphabetisierung. Nach Wagners Erfahrung hat das „Leitbild des einsprachig deutschen Unterrichts“ zu „ermüdenden Improvisationen“ seitens der beteiligten Lehrerschaft geführt: „Oft findet Unterricht nur noch im dirigistischen Frage-Antwort-Stil statt. So lernen die Kinder auch nicht Deutsch.“

Linguisten, die auf zweisprachige Alphabetisierung setzen, argumentieren, es sei doppelt sinnvoll, Kinder auch in ihrer Herkunftssprache zu unterrichten: zur Stärkung der Identität und für die Sprachentwicklung. Wer einmal eine Sprache richtig gelernt habe, könne das erworbene Wissen auf andere Sprachen transferieren. Nach einem Modell des kanadischen Wissenschaftlers Jim Cummins lernen Kinder um so schneller eine Zweitsprache, je vollständiger sie ihre Erstsprache beherrschen – und sollten folglich eine Weile lang nur ihre Erstsprache lernen.

Auch wenn Cummins Theorie umstritten ist und verschiedene „weichere“ Adaptionen gefunden hat – einig ist man sich in folgendem: Ein Immigrant braucht im Schnitt ein bis zwei Jahre, um Deutsch als Umgangssprache zu lernen, aber sechs bis sieben Jahre bis zur Beherrschung als Unterrichtssprache. Wer zu Hause nur arabisch gesprochen hat, erreicht also erst in der siebten Klasse das Niveau seiner deutschen Mitschüler. „Die Zeit dazwischen ist die sogenannte Risikoperiode“, so der Berliner Sprachforscher Wolfgang Zydans, „die Lehrer meinen, daß das Kind mitkommt, das ist aber nicht so.“

Blickt man ins Ausland, wird die Verwirrung noch größer: In Kalifornien wurde die zweisprachige Erziehung, die ein chinesisches Elternpaar 1974 mit Verweis auf das Recht auf Chancengleichheit eingeklagt hatte, im vergangenen Jahr per Volksentscheid wieder abgeschafft. Dabei stimmten auch viele Migranten für die Abschaffung, weil sie den Eindruck hatten, das Erlernen der Muttersprache mache das Englischsprechen noch schwieriger. Allerdings wurde dort ein Modell abgeschafft, das – Cummins folgend – fast ausschließlich auf Muttersprache setzte: Viele Schüler wurden jahrelang ausschließlich in Spanisch oder Koreanisch unterrichtet; spanische Klassen wurden teilweise bis zur High- School erhalten, was dann oft zum Schulabbruch führte.

In den Niederlanden hingegen werden Kinder der größeren Einwanderergruppen seit 1974 auch in ihrer eigenen Sprache und Kultur unterrichtet. Anlaß dafür war nicht nur die Sprachentwicklung, sondern die Förderung des Selbstbewußtseins: Der Erhalt der eigenen Kultur, hieß es, sei entscheidend für die Identität der Immigranten – und damit für deren Integration.

Seit dem vergangenen August gibt es ein gesetzlich verankertes Recht auf Unterricht in der Muttersprache. Das heißt zwar nicht, daß jedes Migrantenkind neben der Schulzeit muttersprachlichen Unterricht bekommt, sondern nur größere Gruppen. Allerdings hat es dazu geführt, daß Expertenteams in Holland auch überwiegend mündliche Sprachen wie Kurdisch und Berberisch in Schulbücher übersetzt haben.

Dort ist man überzeugt, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben: Erst vor zwei Wochen gab eine Studie unter dem Titel „Von der Erst- zur Zweitsprache“ Auftrieb. In einem Rotterdamer Modellprojekt nahmen türkische Kinder zwei Jahre lang jedes Thema zunächst in Türkisch und eine Woche später in Niederländisch durch. Ihre Ergebnisse wurden mit denen verglichen, die nur Niederländisch oder abgetrennten Türkischunterricht bekommen hatten. Das Fazit der Studie lautete: „Wenn Bildungspolitiker sich dazu durchringen können, in qualitativ hochwertigen muttersprachlichen Unterricht zu investieren, werden die schulischen Ergebnisse in beiden Sprachen deutlich verbessert.“