Show und Showdown im Klassenzimmer

In Berlin-Kreuzberg sitzen türkische und kurdische Schüler gemeinsam im Gesellschaftskunde-Unterricht. Die Verhaftung von Abdullah Öcalan provoziert sie zu heftigen Wortgefechten – wenn man sie dazu ermuntert  ■ Von Constanze v. Bullion

Berlin (taz) – Der „Nigger“ und die „Kanaken“ sind sich einig. Abdullah Öcalan ist ein ganz mieser Bursche. „Ein Terrorist“, mein Hüseyin. „Genau!“ schreit aufgeregt sein Kumpel Devran. „Der wollte alle Türken in Deutschland umbringen“, vermutet Patrick und wird von der ganzen Klasse ausgelacht. Dennis macht heute ständig affenartige Geräusche, sobald der Mitschüler aus Togo etwas sagt. „Geht mir am Arsch vorbei“, sagt Patrick und vertieft sich in seine Zeitung.

Alles im Lot, kein Grund zur Aufregung an der 2. Gesamtschule Berlin-Kreuzberg. Im Wahlpflichtfach Gesellschaftskunde der 10. Klassen hat Christian Meyer einen Artikel aus der Zeit verteilt. Ziemlich anspruchsvolle Lektüre über den Kurdenkonflikt und die PKK mutet der Geschichtslehrer seinen zwölf Schülern zu, doch die regen sich weniger über die vielen Fremdwörter als über das Thema an sich auf. Wer dieser Tage über Abdullah Öcalan diskutieren will, begibt sich auf explosives Terrain. Genau das beabsichtigt Christian Meyer.

„Wir sollten mit den Schülern viel mehr über die politischen Ansichten sprechen, die sie von zu Hause mitbringen“, meint der Pädagoge, „dazu müssen wir besser mit ihrer Kultur vertraut sein.“ Der Herr mit dem großzügigen Taillenumfang hält wenig vom stetig anschwellenden Gejammer über „Problemschulen mit hohem Ausländeranteil“. Um mit seinen Schülern klarzukommen, hat er Türkisch gelernt und organisiert Klassenfahrten in den Nahen Osten. „In der Lehrerschaft gibt es erhebliche Defizite im Umgang mit nichtdeutschen Schülern“, meint Meyer, „die haben oft große Ängste, die durch mehr Information abgebaut werden könnten.“ Neben Lehrerberatung und -fortbildung setzt er vor allem auf ungebremste Wortschlachten im Klassenzimmer.

„Kanaken“ nennen sich – halb ironisch, halb trotzig – viele der 15- bis 18jährigen SchülerInnen untereinander, heute lümmeln sie im „A-Team“ an drei Tischen herum. Hüseyin, ein Halbstarker mit Pudelmütze, führt das Wort in der ersten Gruppe, hier spricht man Türkisch miteinander. Am Nachbartisch sitzt Dennis, der trägt schwarze Tolle und redet im typischen Kreuzberger „Ey, Alter“- Slang, ist aber „durch und durch deutsch“, wie sich herausstellt. In der dritten Gruppe starren vier Blondschöpfe gelangweilt vor sich hin. Die Deutschen überlassen es lieber ihrem Banknachbarn Devran, über die PKK die Klappe aufzureißen. „Die türkische Armee hätte keine zehn Jahre gebraucht, um die Kurden zu besiegen, wenn sie es gewollt hätte“, verkündet der aufgekratzte junge Mann, der gern mal Atatürk oder die Mythen der Völkerwanderung bemüht, um Ankaras Rüstungspolitik zu rechtfertigen. „Wir kamen aus Mittelasien“, erklärt er, „deshalb mochten uns die anderen Völker nicht, und heute wollen uns Saddam Hussein und die PKK nicht stark werden lassen.“

Das erinnere ihn irgendwie an die Nazis, entgegnet der Lehrer gelassen, „die haben auch immer behauptet, sie seien von bösen Feinden umzingelt“. Im Klassenzimmer bricht ein kleiner Tumult aus. „Sie können die türkische Regierung doch nicht mit Faschisten vergleichen!“ ruft Devran. „Aber die machen ein kurdisches Dorf nach dem anderen platt“, entgegnet Mitschüler Felix. „Ihr Deutschen verdient doch an dem Krieg“, schimpft Devran zurück, „dann braucht ihr nicht scheinheilig von Menschenrechten reden!“ „Wo Öcalan auftaucht, gibt's Streß“, bestätigt Mützenträger Hüseyin.

Der einzige Kurde in der Klasse kennt das Geschrei. Abdullah ist ein eher stiller Schüler, der sich von der türkischen Übermacht nicht einschüchtern läßt. „Ihr Scheißkurden habt kein Recht, in der Türkei zu leben“, hat ihm neulich einer auf dem Schulhof hinterhergerufen, vor einer Weile beschimpften sich Kurden und Türken vor laufenden Kameras als „Mißgeburten“. Ein bißchen Show muß eben sein, sonderlich schockiert ist Abdullah nicht davon. Er selbst ist vor ein paar Tagen nicht mal zur großen Kurdendemo gegangen, dafür sei er „vielleicht nicht radikal genug“. Hier spricht nicht der aufgebrachte PKK-Nachwuchs, sondern ein folgsamer Sohn, der die Gefühle der Verwandtschaft nicht verletzen will.

Was bedeutet eigentlich „Identität“?

Der Zeitungsartikel wird weitergelesen. Etwas holperig klingt das bei manchen, doch heute kommt es auf die Inhalte an. Warum ließ PKK-Chef Öcalan seine Mitstreiter umbringen? Was bedeuten „Identität“ oder „Terrorismus“? Lehrer Meyer erzählt von einer Klassenfahrt in ein kurdisches Dorf. Türkische Militärs überfielen kurz nach der Abreise der Schüler das Dorf, sprengten Häuser und den Brunnen, fällten alle Bäume. Wer überlebt habe, könne wohl nie mehr zurückkehren. Im Klassenzimmer ist es totenstill geworden.

Ankaras Kurdenpolitik derart ungeschminkt zu kritisieren, das können sich nicht alle Lehrer erlauben. Ein türkischer Pädagoge, der an einer anderen Schule lehrt als Christian Meyer, aber ähnliche Fragen anschneidet, berichtet lieber anonym von seinen Erfahrungen. Auch er hat im Unterricht Kurdenfragen oder Menschenrechte thematisiert – und sich die Finger verbrannt. Als er eine Klassenarbeit über „Frauenrechte in der Türkei“ schreiben ließ, beantwortet ein Schüler keine Frage, sondern gab die Biographie eines faschistischen türkischen Führers ab. „Reine Provokation“, weiß der Lehrer, der die Eltern zum Gespräch lud. In Deutschland dürfe schließlich jeder seine Meinung sagen, erklärte ihm der Vater nur.

Der Vorfall blieb keine Ausnahme. Hartnäckig versuchte der Pädagoge, gegen den Einfluß nationalistischer Elternhäuser anzukämpfen, initiierte Diskussionen über Religion und Toleranz an einer Wandzeitung. Wütende Proteste hat er dafür geerntet, immer wieder fragte man ihn, wo er eigentlich „als Türke“ stehe. „Ich bin fertig“, sagt der Mann heute, „ich will mir einfach keine Schläge mehr androhen lassen.“ In seinem Unterricht geht es jetzt nur noch um türkische Kunst und Poesie.

Als deutscher Lehrer hat es Christian Meyer da leichter. Auch ihm ist nicht entgangen, welchen Einfluß Graue Wölfe oder PKK auf die Schüler haben können. Daß sie zunehmend zwischen die Fronten politischer Betonköpfe geraten, weist er jedoch von sich. Meyer hat sich eine gewisse Gelassenheit im Umgang mit derben Sprüchen zugelegt, bei seinen Schülern hat er deshalb einen dicken Stein im Brett. „Der beruft nicht gleich eine Klassenkonferenz ein, wenn mal einer Arschloch sagt“, lobt die 18jährige Bahar. „Der Typ kennt sich aus, der weiß alles über Geschichte“, sagt selbst Devran, der eben noch Kritik für seine militanten Sprüche einstecken mußte.

Fragt man die „Kanaken“ und den „Nigger“ der 2. Gesamtschule, welche Rolle Politik oder Rassismus in ihren Freundschaften spielen, lachen sie nur. Daß Dennis in Affengebrüll ausbricht, sobald Patrick etwas sagt, habe nichts mit dessen Hautfarbe zu tun. „Der schuldet mir noch ein paar Dosen Cola, weil er eine Wette verloren hat“, behauptet Dennis. Im richtigen Leben will auch Überzeugungstürke Devran nichts gegen Kurden haben. Sein „bester Freund“ sei Abdullah, der Kurde. Stimmt, meint Abdullah, „ich sage Devran immer die Meinung, der hört schon ein bißchen auf mich.“ Und wenn ihn wieder einer „Scheißkurde“ nennt? „Dann war's vielleicht nicht so ernst gemeint.“