Ausgezeichnetes genialisches Monsterbuch

■ Auf 550 Seiten dokumentiert die Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung die 54jährige Geschichte des Bremer Literaturpreises. Ein Fazit: Seine Vorreiterfunktion hat er verloren

Das Jahr 2000 als Zäsur und Schwelle ist allemal Grund genug, ordentlich, seriös und umfangreich zurückzublicken. Besonders gut läßt sich zwischen Buchdeckeln zurückblicken. Und besonders schön ist das, wenn es die Kultur selbst ist, die sich da feiert.

In diesem Fall geht es um den Bremer Literaturpreis. 1954 in die Welt gesetzt, hat er mit dem Ende des Jahrtausends fast ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel. Was liegt da näher, als eine Dokumentation herauszugeben. Vor elf Jahren erstmals erschienen, fügt sie sich erweitert und im festen Einband – sozusagen hochglänzend – dem anschwellenden Erinnerungsreigen ein.

So stolz die BremerInnen darauf sein können, daß ihr Preis bis heute zu den renommiertesten Auszeichnungen für literarische Werke zählt (gleich nach dem Büchner-Preis wird er noch immer als Nummer zwei gehandelt), so lang ist der Schatten, der ihm seit der „Blechtrommel-Affäre“ anhängt. 1960 lehnte der Senat den von der Jury ausgelobten Roman von Günter Grass ab, aus Angst, der freche und frivole Trommler könnte einer „außerkünstlerische“ Diskussion in der Öffentlichkeit provozieren.

Wolfgang Emmerich, Herausgeber der Dokumentation, hat in seinem flüssig geschriebenen, nüchternen Vorwort und in seiner Dokumentation diese kritische Zeit detailliert festgehalten. „Wer 'Die Blechtrommel' kennt, und wer Bremen kennt, wird die Scheu der Bremer Senatoren, diesen rüden Geniestreich von Roman, dieses genialische Monstrum eines Buches öffentlich zu ehren, vielleicht verstehen, wenn auch nicht verzeihen“, schrieb der Kölner Stadtanzeiger am 29. Dezember 1959 genüßlich. Bremen hatte seinen bundesweiten Skandal, der Preis wurde daraufhin zwei Jahre nicht vergeben. Danach wurde eine Stiftung gegründet, die sich eine neue Satzung gab, wodurch der Senat jedes Einspruchsrecht verlor.

In den sechziger und siebziger Jahren zeichnete die Jury, der auch jeweils der letztjährige Preisträger angehört, mit sicherem Gespür für Qualität die Größen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur aus: Von Siegfried Lenz (1962) über Thomas Bernhard (1965), von Wolfgang Hildesheimer (1966) über Jurek Becker (1974) bis hin zu Heiner Kipphardt (1977) und Ale-xander Kluge (1979).

Seit 1976 gibt es den ergänzenden „Förderpreis“ für jüngste Literatur, der sich wiederum durch einen Skandal aus dem Schatten des großen Literaturpreis-Bruders befreite. 1980 wurde der Förderpreis Peter Paul Zahl für seinen Schelmenroman „Die Glücklichen“ zugesprochen. Die einen sahen in dem wegen versuchten Mordes zu 15 Jahren Haft verurteilten Autor einen „geistigen Wegbereiter des Terrorismus“ (“Gewaltverbrecher erhält Förderpreis“). Die Jury hingegen verteidigte unbeirrt die literarische Qualität seines Buches.

In den 80er Jahren erhielten die großen „Heimkehrer“ Peter Weiss (1982) und Erich Fried (1983) den Bremer Literaturpreis. Wolfgang Emmerich, Anfang der achtziger Jahre selbst Jury-Mitglied, hält sich mit Wertungen der Preisträgergarde in den letzten anderthalb Jahrzehnten weise zurück. Kritisch bleiben seine Nachfragen dennoch. „Die Liste der großen Vergessenen liest sich ernüchternderweise mindestens genauso gewichtig wie die der Preisträger“, hatte er schon 1987 festgestellt. 1998 attestiert er dem Preis zwar „seriöse Ausgewogenheit“, aber er habe „alles andere als eine Vorreiterfunktion, die er in den 50er Jahren mit Bachmann, Celan und Grass zweifellos hatte“.

Seine Hoffnung setzt Emmerich auf den „vehementen Generationswechsel“ in der deutschsprachigen Literatur, an dem auch die Bremer-Innen nicht vorbeisehen können. Für die jüngeren Preisträger Durs Grünbein, Norbert Gstrein oder Thomas Strittmatter gelte: „Keine Utopie, nirgends, keine Verführbarkeit.“ Das 550seitige Lese- und Bilderbuch dokumentiert übersichtlich, vielfältig, kurzweilig im Spiegel eines Preises, anhand von Lob- und Dankesreden, ergänzt um Zeitungskommentare, LeserInnenbriefe und Fotos ein halbes Jahrhundert jüngste deutschsprachige Literaturgeschichte. Es ist aber auch ein vorzügliches Buch zum Flanieren, zum Blättern, Überfliegen und Hängenbleiben. Zum Beispiel an den Worten jenes leisen und höflichen „Zauberers“ Reinhard Lettau, der den Preis 1995, ein Jahr vor seinem Tod, erhielt: „Ich danke der Jury der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung für den mir zuerkannten Preis, den ich nicht erwartet habe, da ich schon lange mit der Beobachtung mich abgefunden hatte, daß die Bücher, die man auszeichnet, schwerer sind als meines, wenn man sie nach Hause trägt. Ganz empfindlichen Dank!“

Hans Happel

„Der Bremer Literaturpreis 1954-1998“. Reden der Preisträger und andere Texte. Eine Dokumentation der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung. Hrsg. von Wolfgang Emmerich, edition die horen, 540 Seiten, 1999, 49,80 Mark