Streifzüge durch dunkle Etagenschluchten

■ Sanft fliegt der Text, milder Wahnsinn greift nach den Gestalten. Das Theater zum Westlichen Stadthirschen inszenierte „Meine Freunde“ nach dem Roman von Emmanuel Bove

Die Bühne ist noch dunkel. Vorne sieht man bloß elf Paar ausgetretene Schuhe. Kurz wird es hell, fünf Darsteller kommen und treten in fünf Paar Schuhe. Man sieht sie dann in fünf Verschlägen wieder, worin kaum ein Stuhl Platz hat: die Wohnung als Zelle, das Leben als Einzelhaft.

„Ach, wie möchte ich reich sein!“, sagt der Mann ganz vorne. Und dann stellt er sich das Leben vor als reicher Mann. Natürlich ist er arm und wird es immer bleiben. Denn so wie er sieht keiner aus, der noch groß Chancen hätte. Er zieht den abgetragenen Mantel über, nimmt einen verbeulten Hut und geht, weil er immer noch hofft, daß etwas passieren wird, das sein Leben verändern wird. Außerdem will die Concierge, daß die Mieter bis neun das Haus verlassen haben. Weil er aber keinen Arbeitsplatz hat, wohin er gehen könnte, läuft Monsieur BÛton nun bis es Nacht wird durch die Straßen von Paris. Die Einsamkeit hat seinen Blick für die Details der Außenwelt geschärft. Aber sie nehmen darin überdimensionale Größe an. Miniaturprobleme werden riesengroß. Schon eine Frau zu küssen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Wie kann sich da ein Leben ändern? Aber jetzt sind wir schon mitten im Roman von Emmanuel Bove, der „Meine Freunde“ heißt, den Peter Handke übersetzt und den das Theater zum Westlichen Stadthirschen (Regie: Erick Aufderheyde) nun für das Theater bearbeitet hat.

Vier Schauspieler teilen sich die Rolle des armen BÛton, und die der armen Schlucker, deren Freundschaft Herr BÛton immer wieder vergeblich sucht: Heinrich Rolfing, Dirk Richard Heidinger, Dominik Bender und Johannes Herrschmann. Die verschiedenen Frauen, denen BÛton begegnet, spielt Hildegard Schroeter. Abwechselnd spielen und erzählen sie nun BÛtons Geschichte. Streifen durch die dunkle Fabriketage wie Boves Held durch die Straßen von Paris. Gruppieren sich um schwarze Pfeiler und alte Stühle, räsonieren, spielen, schlüpfen in die Rollen hinein und im nächsten Moment wieder heraus. Der Bovesche Text fliegt sanft um sie herum. Milder Wahnsinn ergreift von Zeit zu Zeit die Gestalten und schüttelt sie ein bißchen hin und her. Dann kehrt wieder seltsam tote Gleichmut ein.

Man beobachtet die Schauspieler, die ihre Sache durchweg gut machen und wartet trotzdem immer darauf, daß etwas geschieht. Aber es geschieht nichts. Die Tragödie BÛtons wird auch irgendwie die Tragödie dieses Abends. Seine Depression bläht sich auf Breitwandformat. Einmal hofft man fast, BÛton könnte nun endlich mit einem Selbstmörder ins Wasser gehen, den er am Ufer der Seine aufgegabelt hat. Aber BÛton rettet ihn, und alles geht weiter. Am Ende wird er immer bloß ausgenutzt und hat schließlich sogar seine Wohnung verloren. Nicht weil er irgend etwas getan hätte – im Gegenteil. „Nicht zur Arbeit gegangen, nicht gesungen, nicht gelacht und keine Zigaretten auf die Treppe geworfen!“ BÛtons Leben wird trotzdem weitergehen. Bloß die Zuschauer dürfen jetzt nach Hause gehen. Esther Slevogt

Mi bis Sa, jeweils 20 Uhr