Balsam auf der wunden Seele

Dynamo Kiew, das heute im Viertelfinale der Champions League bei Real Madrid spielt, tröstet die Menschen in der Ukraine über die schwere Wirtschaftskrise hinweg  ■ Aus Kiew Kurt Pertini

Dynamo Kiew ist der einzige Klub der Ukraine mit internationalem Ansehen, und er hat alles: Stars, Politiker, Halbwelt, und viel, viel Geld. Und er hat einen Buddha. Zumindest kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, wenn man Valeri Lobanowski, den fülligen Mann mit dem Doppelkinn, so entrückt lächeln sieht wie in diesen Tagen. Sein Team steht im Viertelfinale der Champions League, und Lobanowski rechnet sich auch gegen Real Madrid durchaus Chancen aus, wo Dynamo heute zum Hinspiel antritt.

Vor vier Jahren hätte niemand in Kiew an einen solchen Erfolg geglaubt. Lobanowski war 1991 als Trainer nach Kuwait gegangen, 1995 folgte der Tiefpunkt. Die Uefa schloß den Klub für drei Jahre von allen internationalen Wettbewerben aus, weil bei einem Europacupmatch Schieds- und Linienrichter mit teuren Nerzmänteln bestochen worden waren. „Nur einer kann das sinkende Schiff retten, nur einer kann den ukrainischen Fußball wieder zum Leben erwecken“, schrieb damals eine Zeitung. Tatsächlich: Lobanowski, nicht wenige Kilogramm schwerer, stellte sich gewohnt stoisch an den Spielfeldrand. Nachdem die Uefa die Sperre auf ein Jahr verkürzte, läuft der Dynamo auch international wieder auf vollen Touren. „Wir haben auf Lobanowski gewartet wie auf den Messias“, sagt ein ukrainischer Journalist.

Dynamo ist mehr als Fußball, Dynamo ist Opium für das darbende ukrainische Volk und verleiht Politikern Prestige, die sich auch in Kiew gerne im Glanz von Fußballklubs sonnen. Der langjährige Dynamo-Präsident Hryhori Surkis ist so einer. Einer der reichsten Männer des Landes und Sozialdemokrat, wenngleich Surkis mit Sozialdemokratie so viel zu tun hat wie ein Nerzmantel mit einem Blaumann. Vorstand und Spieler des Klubs sind ebenfalls überzeugte Sozialdemokraten, zumindest wurden sie im Kollektiv zu Mitgliedern der Partei bestimmt. Im März 1998 rief ein Reporter bei der TV-Übertragung des Champions-League-Viertelfinales gegen Juventus Turin mitten im Spiel die Zuschauer auf, die Sozialdemokraten zu wählen, Flugblätter warben unter den 90.000 Fans um Stimmen. Dumm nur: Juventus gewann 4:1. Eine Woche später reichte es bei den Wahlen nur zu enttäuschenden vier Prozent. Dynamo ist aber nicht nur der Klub einer Partei. Staatspräsident Kutschma läßt ungern ein Spiel aus, und Premierminister Pustowojtenko, Präsident des ukrainischen Fußballverbandes, ist Dynamo-Fan.

Dem Buddha ist solches Beiwerk egal. Lobanowski (59) lächelt, vor allem, nachdem sein Team mit drei Siegen hintereinander noch vom letzten auf den ersten Platz der Vorrundengruppe in der Champions League gelangt war. Lobanowskis Leistung ist um so bemerkenswerter, als bei Dynamo ausschließlich Spieler aus der ehemaligen Sowjetunion spielen. Alljährlich werden die besten gegen Devisen verkauft, Nachwuchs muß der Trainer im kargen eigenen Land finden. Daß Dynamo erneut im Viertelfinale steht, kommt für Experten dennoch nicht überraschend. In einer Umfrage des Kicker wurde Kiew zum achtbesten Klub des Jahrhunderts gewählt. Johan Cruyff setzte Dynamo ob der unglaublichen Stabilität gar auf Rang drei. Schon 1997 hatte man Barcelona, Newcastle und Eindhoven souverän hinter sich gelassen, das 4:0 in Barcelona gehörte zu den Leckerbissen moderner Fußballschule. Diesmal zogen der französische (RC Lens), der britische (Arsenal) und der griechische Meister (Panathinaikos Athen) den kürzeren. Objektiv gibt es keinen Grund, Dynamo zu unterschätzen. Der UdSSR-Rekordmeister (13 Titel) stellt das Gerüst der ukrainischen Nationalmannschaft, die ihre EM-Qualifikationsgruppe vor Weltmeister Frankreich und Rußland anführt. Mit dem 22jährigen Andrej Schewtschenko verfügt man über einen der besten Stürmer der Welt, spielt schnell, modern und kompakt. Konterstark auswärts, druckvoll zu Hause, getrieben von unaufhörlichen „Di-Na-Mo“-Rufen der knapp 100.000 im Riesenkessel des Republikstadions.

Die Erfolge von Dynamo sind Balsam auf der wunden ukrainischen Seele. Sport dient hier dazu, das Selbstwertgefühl zu steigern, die schlimmste Wirtschaftskrise seit Erlangung der Unabhängigkeit vergessen zu machen. Da verzeihen die Menschen auf der Straße, von denen viele seit Monaten keine Kopeke Lohn mehr erhalten haben, ihren Stars auch den Reichtum und Ausflüge in die Halbwelt. Denn die Mär vom armen Ost-Klub zieht hier nicht.

Präsident Surkis machte im letzten Jahr noch einmal klar, wer bei Dynamo das Sagen hat. Da kolportierte eine Zeitung das Gerücht, der Verkauf von Schewtschenko an den AC Mailand sei beschlossene Sache. Surkis ging vor Gericht. Die Zeitung wurde zu einer Geldstrafe von umgerechnet vier Millionen Mark verurteilt, wodurch das Blatt, mit einer Auflage von 200.000 Exemplaren eines der meistgelesenen des Landes, schließen mußte.

Zufällig stand die Zeitung einem politischen Gegner nahe, Pawel Lasarenko, bis 1997 ukrainischer Premierminister. Wie das Schicksal so spielt, saß Lasarenko, als Surkis in der Schweiz der Viertelfinalauslosung der Champions League beiwohnte, ein paar Kilometer weiter im Untersuchungsgefängnis. Als Premier soll er 20 Millionen Dollar in die Schweiz verschoben haben. Vom Top-Fußball bis zu den Niederungen der Schattenwirtschaft sind es manchmal nur ein paar Schritte.