„Mit Verlaub, Herr Außenminister, Sie sind ein Schwätzer!“

■ Die Grünen brauchen eine Radikalkur, keine halbherzige Verjüngung, die von 50jährigen Ex-Spontis initiiert und kontrolliert wird

Joschka Fischer höchstpersönlich ließ sich aus dem Elfenbeinturm der Außenpolitik herab, um den Grünen die Leviten zu lesen: Die Zeit der Lebenslügen sei vorbei, die Grünen brauchten dringend eine „Verjüngung“. Außerdem müßten die Grünen jetzt rein in eine Debatte um Strukturen, die nicht mehr zeitgemäß sind. Sprach's und verschwand wieder über den Wolken. Mit Verlaub, Herr Außenminister, Sie sind ein Schwätzer!

Danke, Herr Fischer, daß Sie die Partei im Bundestagswahlkampf noch einmal gerettet haben. Aber wo bleibt die Initiative, die nicht aus dem bequemen Parlamentssessel via Medien zum Parteivolk kommt? Wo bleibt die Initiative, die auch mal auf einem Parteitag ohne Formelkompromisse durchgekämpft wird – auch auf die Gefahr einer Niederlage hin? Wann wird auf höchster Ebene mal nicht „geburgfriedelt“ und Unsympathieträger Trittin zum Parteisprecher oder Minister geadelt?

Seit der Hamburger Bürgerschaftswahl im September 1997 haben die Grünen bei allen Wahlen verloren. Schon seit 1996 gehen die Ergebnisse im Bereich der Erst- und JungwählerInnen kontinuierlich zurück. Die Krise ist existentiell: Die Modeerscheinung Grün ist unattraktiv geworden für die jüngeren Generationen. Sie kommt altbacken und moralisierend daher; ist inhaltlich, personell und auch strukturell in den fetten achtziger Jahren stehengeblieben. Daß die ewige Hoffnungsfigur Fischer jetzt eine Verjüngung fordert und damit meint, daß man mehr unter 30jährige auf Reservelisten plaziert, greift viel zu kurz. Auch der Ruf nach Reform der – tatsächlich unprofessionellen und nur bedingt arbeitsfähigen Strukturen – ist angesichts des Leipziger Parteitages nicht mehr als die Eröffnung eines Scheingefechts. In Leipzig ging in Abwesenheit des Außenministers genau dieses Vorhaben ziemlich daneben.

Was die Grünen brauchen, ist keine halbherzige Verjüngung, die von 50jährigen Ex-Spontis initiiert und kontrolliert wird. Die Grünen brauchen eine radikale Bestandsaufnahme und eine schonungslose Erneuerung. Wenn sie wieder die Menschen, vor allem die Jungen, ansprechen wollen, müssen sie Motor einer neuen Reform- und Modernisierungsbewegung werden.

Dies gilt strukturell und personell, vor allem aber inhaltlich. Eine Partei, die wie die katholische Kirche daherkommt, die Welt durch ihre schwarzweißgrüne Brille sieht und nicht merkt, daß das Leben bunter geworden ist, kommt schnell in den Ruch, die Sorgen und Probleme der jungen Menschen nicht mehr ernst zu nehmen.

Während die Grünen darüber streiten, ob in 12, 13 oder 14 Monaten aus der Wiederaufbereitung ausgestiegen wird, stehen Jugendliche auf der Straße, weil sie keinen Ausbildungsplatz haben oder weil schon wieder wegen Lehrermangels Unterricht ausfällt. Natürlich ist es eine zentrale Frage, endlich aus der Atomkraft auszusteigen. Natürlich will auch die Mehrheit der jungen Menschen mit uns diese gefährliche Energieform entsorgen. Damit ist die Debatte und ist ihre Relevanz für die Menschen aber auch beendet. Endlosdiskussionen über Restlaufzeiten und Ausstiegsfristen gehen völlig an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei und schaden nicht nur uns, sondern auch der guten Sache Atomausstieg.

Wir Grünen müssen endlich die Verantwortung und den Gestaltungsauftrag ernst nehmen und ausfüllen, den uns die Menschen gegeben haben, statt uns in haarspalterischer Politik zu verkämpfen, die den Großteil der Leute, die nicht aus Umweltverbänden und Anti-AKW-Bewegung kommen, nur abschrecken. Die Grünen sind nicht die Agenten irgendeiner Bewegung in der Regierung. Sie sind auch nicht die Vertretung der Systemgegner im System. Die Grünen sind eine normale, renommierte Partei, die den Auftrag hat, für alle Menschen eines der größten Industrieländer der Welt zu regieren.

Das heißt, daß die Themen, die die Menschen betreffen, angenommen und grün besetzt werden müssen. Dazu gehört für die junge Generation zuallererst die Sorge um Ausbildung und Arbeitsplatz. Ein rosa Sofa für jede Schule zu fordern, auf dem sich Schüler (und Lehrer) in den Pausen rauchend erzählen, welch nette Gemeinschaft sie miteinander bilden, reicht als bildungspolitisches Konzept nicht mehr aus. Schülerinnen und Schüler brauchen die Chance, nach ihren individuellen Fähigkeiten und Talenten praxisnah auf ihren weiteren Lebensweg vorbereitet werden zu können. Um dies erreichen zu können, müssen grüne Dogmen über Bord geschmissen werden. Die Verkürzung der Schulzeit gehört genauso auf die Tagesordnung wie eine engere Kooperation der Schulen mit Unternehmen.

Bewegen müssen sich die Grünen auch im Bereich der Technologien und neuen Medien – ein Themenfeld, was für junge Menschen immer mehr in den Mittelpunkt ihres privaten und beruflichen Lebens rückt. Wir diskutieren immer noch auf Positionen und Standpunkten, die viele Jahre alt sind und unter anderen Voraussetzungen gemacht wurden. Das grüne Computerverbot wurde zwar 1997 von einem neuen Medienbeschluß abgelöst, dennoch ist die Partei längst nicht auf dem neuesten Stand. Viele Veränderungen haben ihre Diskussionen überholt. Die Technik, die den Menschen im alltäglichen Leben nahe ist, ist nicht in erster Linie die Solartechnik, ist auch noch nicht die Windkrafttechnologie, schon gar nicht die Meßtechnologie an den Ausgängen der Fabrikschornsteine. Es sind Autos, Computer, Chipkarten, Telefone, Handys, Fernseher und die neuen Medien.

Viele Menschen kaufen bereits Produkte im Internet und führen damit jegliche Debatte um den Ladenschluß ad absurdum. Hier ist grüne Politik gefragt, die über Ablehnung und Technologie- Paranoia hinausgeht.

Hier liegt auch die Chance, grüne Kernfelder neu zu besetzen. Seit einiger Zeit wird unter Freaks und Spezialisten eine heftige Debatte um Datenschutz und Verschlüsselung im Internet geführt. Hier geht es, genauso wie beim politisch gut besetzten Lauschangriff, um die Privatsphäre und das Briefgeheimnis, kurz: um Bürgerrechte. Eine Chance für die Grünen!

Auch in der Wirtschaftspolitik müssen neue Wege gegangen werden. Hier sind die Grünen nahezu nur als Blockierer der alten Industrie und vielleicht noch als Förderer von ein paar kleineren Solarprojekten präsent. Wo bleiben grüne Konzepte im Bereich der wachsenden Medienlandschaft, im genannten Kommunikationssektor, in der Förderung von Unternehmen mit neuen Arbeitsformen, wie zum Beispiel Tele-Working, oder im Bereich Bildung und Ausbildung jenseits der ausgetrampelten Pfade? Die Partei braucht wieder mehr Phantasie in der Entwicklung neuer Ideen statt in der Entwicklung neuer Parteistrukturkompromisse.

Die hier nur kurz angerissenen Felder zeigen, daß die Grünen eine radikale Erneuerung brauchen, wollen sie die tiefste existentielle Krise seit ihrer Gründung überleben. Denn es geht nicht nur um ein paar verlorene Wahlen. Es geht darum, daß die Partei die Menschen nicht mehr erreicht, sich zunehmend von der Lebenswirklichkeit entfernt hat. Die Grünen dürfen nicht die Fehler anderer machen und glauben, dies sei mit ein paar neuen Leuten und Ideen kurzfristig zu lösen.

Eine wirkliche Erneuerung muß einsetzen, bevor das Debakel endgültig vollzogen ist. Die CDU ist hier das warnende Beispiel: Bis in den vorläufigen Untergang hinein wurde am System Kohl festgehalten, obwohl damit kein Sieg mehr zu erreichen war. Wir wollen die Grünen vor diesem Schicksal bewahren. Denn eines ist klar: Weder Fischer noch Trittin werden die grüne Politik in Zukunft prägen und voranbringen. Die heute unter 30jährigen werden es sein, die diese Partei und ihre Politik in Zukunft vertreten und gestalten müssen. Nicht Sich-jung-Fühlen – Jungsein ist gefragt. Die Zeit der Lebenslügen ist vorbei, Herr Fischer! Dagmar Müller, Michael Ortmanns, Daniel Schneider, Alex Bonde

www.regioconnect.de/jung

Das vollständige Thesenpapier „Forever Young – Grüne: Junge Partei mit Jugendproblemen“ finden Sie im internet unter: