Die Stadt der Repräsentanzen

Als der Regierungsumzug beschlossen wurde, hofften viele: Berlin wird wieder Metropole. Über Lebenslügen und Nebeneffekte des Hauptstadtprojekts  ■ Von H. Wolfgang Hoffmann

Eine Vision, die in der Sektlaune der Nacht des Mauerfalls geboren wurde, erwies sich als besonders standhaft. Berlin würde nun wieder zu dem, was es bestenfalls noch in der Erinnerung war: eine Metropole. Der Weg dorthin schien am 20. Juni 1991 bereitet, als der Bundestag für die Verlagerung des Regierungssitzes vom Rhein an die Spree votierte. Nicht nur in Meyers Enzyklopädie des Jahres 1972 war der Begriff Metropole mit dieser Funktion untrennbar verknüpft. Angestachelt wurden die Hoffnungen sogar von der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei, der es mit dem furchterregenden Pleonasmus „Hauptstadt- Metropole“ nicht gelang, die Abgeordneten umzustimmen.

Heute, da die Regierung die Stadt leibhaftig betritt, macht sich Ernüchterung breit. Am deutlichsten fällt das Urteil aus, wenn man auf einen Aspekt blickt, der zwar nur ein Teil des Hauptstadtprojekts ist, der die zukünftige Entwicklung aber schon jetzt erhärtet: 1994 wurde entschieden, die Apparate nicht in Neu-, sondern mehrheitlich in Altbauten unterzubringen. Was zu Recht dem Sparzwang Rechnung trug, war städtebaulich kein großer Impuls. Selbst der gewichtigste Brocken, die Regierungsspange im Spreebogen, enttäuscht, wenn man sie an der Urbanität mißt, die das Alsenviertel an jener Stelle einst entfaltete, oder sich vorstellt, diese Anstrengungen wären auf der Spreeinsel unternommen worden.

Die Resignation geht freilich weiter: Sämtliche Prognosen, die nach der Hauptstadt-Entscheidung Berlin einen Wachstumsschub vorhersagten, haben sich als falsch erwiesen. Die Stadt stagniert, nicht nur hinsichtlich ihrer Bevölkerungszahl. Und ein Beamtenmoloch Bonner Prägung wird Berlin durch gut 11.000 Bundesbedienstete sicher nicht.

Freilich konnte das Ergebnis nicht anders ausfallen, da die Erwartungen auf einem Denkfehler beruhten. Für Berlin ging es 1991 nicht darum, Regierungssitz zu werden, sondern zu bleiben. Während die alt-bundesrepublikanisch geprägte Sprachregelung mit dem Begriff „Umzug“ Hoffnungen auf den Gewinn von etwas Neuem weckte, ging es in Wahrheit nur um die Fortschreibung von etwas Vorhandenem. Angesichts der Tatsache, daß die DDR in Berlin einst viermal so viele Staatsdiener brauchte, um gerade ein Drittel der Fläche zu verwalten, muß man vielmehr einen Bedeutungsverlust des Staates konstatieren, der Modernisierung der Gesellschaft entsprach. Der Staat hat seine Macht nach vielen Seiten abgegeben. Von dem alten, zentralistisch-totalitären Nationalstaat des 19. Jahrhunderts, dessen Hauptstadt Berlin einst war, ist längst nichts mehr übrig. Nachdem schon die alte Bundesrepublik ein gut Teil des Apparates Staatsgewalt aus ihrer Hauptstadt in die Provinz verlagert hatte – nach Karlsruhe, Sitz der dritten Gewalt im Staate –, wird Deutschland nun noch förderaler: Der Umzugsbeschluß wurde damit erkauft, daß die Mehrzahl der Bundesbediensteten in Bonn verbleibt und einige der früher in Berlin ansässigen Behörden wie etwa das Umweltbundesamt in die neuen Bundesländer übersiedeln. In Zukunft werden europäische Einigung und Globalisierung den Stellenwert einer nationalen Hauptstadt wie Berlin verringern. Schließlich haben Jahrzehnte neoliberaler Ideologie den Staat verschlankt und Verantwortung ins Private verlagert.

Mit der Regierung im Rücken glaubte sich Berlin auf dem Weg zur Dienstleistungsmetropole. Auch das hat sich als Kurzschluß erwiesen. Zwar ließen milliardenschwere Steuergeschenke rund zehn Millionen Quadratmeter neuer Büroflächen entstehen. Doch daß diese gefüllt werden, kann die Stadt nur hoffen. Derzeit steht ein Zehntel des Gesamtbestandes leer, mehr als selbst bei guter Konjunktur in zehn Jahren bezogen werden könnte.

Trotz dieser überaus üppigen Daseinsvorsorge ist die Stadt ihrem Ziel nicht näher gekommen. Hauptverwaltungen von Großunternehmen, die nach Berlin übersiedeln, lassen sich an einer Hand abzählen, Allianz, Daimler-Benz, Sony, die Deutsche Bahn AG. Insbesondere die Protagonisten der Geldwirtschaft, denen in einer global city (der modernistischen Definition von Metropole) eine Schlüsselstellung zukommt, bleiben in Frankfurt am Main, das durch die Ansiedlung der Europäischen Zentralbank seine Stellung als monetäre Metropole weiter festigt. Statt Zentralen blieben für die Hauptstadt nur Filialen.

Auch diese Entwicklung kann kaum überraschen. Schon die praktische Politik hat sie unbewußt unterstützt: Die Berliner Beschränkung auf die traditionelle Traufhöhe hat Großansiedlungen in der Innenstadt nahezu unmöglich gemacht. Jene 180.000 Quadratmeter des Projekts Treptowers unterzubringen, dem gewaltigen Hochhaus an der Spree, die jetzt im wesentlichen von der Allianz genutzt werden, war nur im Fernen Osten Berlins möglich. Dagegen ging man in Frankfurt erfolgreich den gegenteiligen Weg und gewährte im Zentrum Turmfreiheit. Das Entstehen bedeutender Einzelprojekte, wie man sie dort beobachten kann, wurde durch die Förderpolitik des Bundes, die in erster Linie auf dem Instrument allgemeiner Steuernachlässe aufbaute, nicht eben befördert. Weit wichtiger ist jedoch, daß Staat und Geschäftswelt in Deutschland nicht offen miteinander verflochten sind. Für letztere ist Lobbyarbeit der einzig gangbare Weg der Einflußnahme. Nicht die gesamte Unternehmung muß Staatsnähe suchen, sondern nur der entsprechende Teil der Managementetage. Eine allumfassende Standortgemeinschaft mit der Regierung, auf die Berlin hoffte, ist schlicht nicht notwendig. Und das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern für den größten Teil des privaten Sektors, für alles, in das der Staat nicht direkt hineinregiert.

Statt dessen entfaltete das Hauptstadtprojekt eine weit näher liegende Sogwirkung. Sie zog jene an, die Umgekehrtes im Sinn haben. Lobbyisten, Vertreter, PR- Berater, Öffentlichkeitsarbeiter, Marketingstrategen und Medienmenschen: Berlin wurde zur Stadt der Repräsentanzen. Obwohl sich die Stadt in der Werbe-, Kino- und Verlagsbranche inzwischen zur ernst zu nehmenden Konkurrenz der bisherigen Zentren Deutschlands – Hamburg, München und Düsseldorf – entwickelt hat, liegt es doch in der Natur dieser Exponenten, daß ihr Mengeneffekt beschränkt ist und sie die Büros kaum füllen können. So liegt in der qualitativen Veränderung die wirkliche Bedeutsamkeit. Mit den Repräsentanzen kam eine Kultur der Repräsentation in die Stadt. Von dem der Regierung am nächsten gelegenen Quartier, der Friedrichstadt, in dem sowohl im Kaiserreich als auch in der DDR ganz andere Nutzungen die Oberhand hatten, haben sie regelrecht Besitz ergriffen. Alles, was im Stadtzentrum geschehen ist, war unbewußt darauf ausgerichtet.

In Zahl und Ausgestaltung übertreffen die Repräsentanzen alles, was man aus dem politischen Zentrum Westdeutschlands kannte, aus dem Ostdeutschlands sowieso. Was dort nur Briefkastenadresse war, mausert sich zu einem Bauwerk, manchmal sogar zum Kulturzentrum. Die Dependance des Guggenheim-Museums ist das prominenteste Beispiel. Selbst die Allianz sucht sich an ihrem nicht unbedingt dafür geeigneten Standort durch Kunst zur Schau zu stellen. Am deutlichsten wird die Entwicklung bei den regierungsnächsten Einrichtungen: den Botschaften. Die Gesandtschaft der nordischen Länder bezeugt prototypisch, daß sich in Berlin nicht nur die Supermächte regelrechte Festspielhäuser leisteten. An kaum einem Regierungssitz geben sich die diplomatischen Vertretungen derart öffentlichkeitswirksam. So bereichert das Hauptstadtprojekt die Stadt gerade dort, wo Berlin schon früher den Rang einer Metropole hatte: auf dem Sektor der Kultur.