Aufstand gegen die Macht der Bürokraten

In der südchinesischen Provinz Hunan protestiert die Landbevölkerung gegen Willkür und Machtmißbrauch der Steuerbeamten. Die letzte Demonstration kostete einen Bauern das Leben. Reformer in Peking geraten unter Druck  ■ Aus Daolin Georg Blume

Hunan ist alles andere als politisches Niemandsland. In der reisgrünen Hügellandschaft der südchinesischen Bauernprovinz stand in den 30er Jahren die „Wiege der Revolution“. Von den ersten Stützpunkten der Roten Armee in Hunan begann der „Lange Marsch“, anfangs nicht mehr als ein Bauernaufstand, der die Kommunisten unter Mao an die Macht führte. Um so peinlicher, wenn nicht gar bedrohlich erscheinen der Partei heute die Bauernproteste in der Provinz.

Schon kennt jeder in Hunan ihre Geschichte. Am 8. Januar starb bei einer Demonstration in der Gemeindestadt Daolin der Bauer Zhang Fangli. An dem Tag protestierten Bauern aus den Dörfern rund um Daolin gegen die willkürlichen Steuererhebungen der Gemeindeleitung. Die Polizei erwartete sie mit Tränengasbomben. Eine Bombe zerriß das Bein des Bauern, und Zhang Fangli verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus. Sein Tod machte weltweit Schlagzeilen, nur in China nicht, wo die Medien Proteste verschweigen, die Mund-zu-Mund-Propaganda aber noch funktioniert.

Daolin befindet sich auf historisch vermintem Gelände. Vor dem graublauen Glaspalast der Gemeindesparkasse, der sich glitzernd über die Dächer des kleinen Marktfleckens erhebt, zeigt der Wegweiser 40 Kilometer bis Shaoshan, zum Geburtsort Maos. Auf der anderen Seite führt die Landstraße ins 10 Kilometer entfernte Huaminglou, die Heimat von Lui Shaoqi, dem wichtigsten Gegenspieler Maos. In Daolin wissen die Bauern noch heute, auf wessen Seite sie stehen: Auf der von Lui Shaoqi, dem moderaten Staatsvorsitzenden der Volksrepublik von 1959 bis 1966, der die Kulturrevolution verhindern wollte, und gegen Mao, der sie anführte. Damals beschimpfte die Parteipropaganda Lui als „diejenige einflußreiche Persönlichkeit, die, obwohl sie bei der Partei ist, den kapitalistischen Weg geht“. Heute gehen in Daolin alle den Weg von Lui Shaoqi.

Die Gemeinde ist reich geworden. Und zwar nicht nur die Sparkasse. Auf dem Weg ins umliegende Hügelland zum Haus der Witwe Zhangs säumen gepflegte zweistöckige Bauernhäuser die Feldwege. Nicht unter die Ärmsten der Armen führt die Spurensuche nach dem Protest, sondern in eine für chinesische Verhältnisse wohlhabende Landgegend. Bauer Zhang lebte in einem sauber betonierten Haus mit zwei Herdstellen: einem weißgekachelten Holzherd für den 1-Meter-Durchmesser- Wok und die großen Familienfeste und einem kleinen modernen Gasherd für den Alltagsgebrauch.

Die Witwe des Ermordeten, wirkt außerordentlich jung, dabei zählt sie 56 Jahre. Die Glätte und das zarte Rosa ihrer Wangen lassen ihr hartes Tagewerk vergessen und sprechen von guter Gesundheit. Das muß nicht überraschen: Ein Grund für die relativ hohe Lebenserwartung der Chinesen von durchschnittlich 71 Jahren ist die gesunde Ernährung auf dem Land: wenig Fleisch, viel Gemüse. Jedes Bauernhaus in Daolin hat seinen Garten, in dem im Februar Kohl und Mangold grünen.

Die Witwe Zhangs ist eine stolze Frau. „Über den Tod meines Mannes beschwere ich mich bei der Regierung, nicht bei der ausländischen Presse“, sagt die Hausherrin gebieterisch. Erst nach allerlei Höflichkeitsbekundungen läßt sie das Gespräch zu.

„Unser Protest war kein Bauernaufstand, sondern eine Kundgebung gegen die Steuermaßnahmen der Gemeinde“, erklärt der jüngere Bruder Zhangs. Scharf grenzt sich der Bauer von einer Anti-Regierungs-Haltung ab. Es seien vielmehr die Beamten im Gemeindebüro, die die Anweisungen der Regierung nicht befolgen würden, indem sie beliebig Steuergelder erheben. „Die Zentralregierung sieht vor, daß Bauern nicht mehr als fünf Prozent ihres Vorjahreseinkommens an Steuern bezahlen müssen. Daran hält sich unsere Gemeinde nicht“, klagt der Bruder Zhangs.

In Daolin kann jeder Bauer ein Lied von den betrügerischen Beamten singen. Die eine Familie kostete ihr gesetzlich unerlaubtes zweites Kind 3.000 Yuan (umgerechnet 600 Mark), die andere nur die Hälfte. Manche Steuern wie die für das Schlachten eines Schweins dürften nach Ansicht der Dorfbewohner gar nicht erhoben werden. Zumal die Schweinesteuer auch bei denjenigen erhoben wird, die gar keine Schweine besitzen. Eine weitere Angabe muß für die Herstellung „besonderer Produkte“ wie Obst und Nüsse gezahlt werden, auch wenn niemand Obst und Nüsse anbaut. Ganz zu schweigen vom Schulgeld und den Zusatzabgaben für Straßenbau und Elektrizitätswerk. Insgesamt fünfzehn unterschiedliche Steuerabgaben haben die Bauern gezählt.

Gegen die Willkür der Steuerbeamten formierte sich schon vor zwei Jahren Protest. Unter dem Namen „Freiwillige für die Bekanntmachung von Gesetzen und Vorschriften“ gründeten Mitglieder der Gemeinde eine lose Gruppe, die immer wieder mit Kritik an der Abgabenpolitik vorstellig wurde. Man schrieb Briefe an übergeordnete Regierungsbehörden und reichte Beschwerde bei der Provinzregierung ein. Als alles nichts half, organisierte die Gruppe am 8. Januar ihre zweite und bislang größte Protestkundgebung: 10.000 Bauern versammelten sich nach Angaben von Teilnehmern vor dem Rathaus in Daolin. Stimmt die Zahl, dann war es eine der größten Bauerndemonstrationen, die China in den 90er Jahren erlebte. „Mein Mann sagte an diesem Tag, er gehe zum Einkaufen in die Stadt“, mischt sich die Witwe ein. Vielleicht wollte der Bauer seine Frau nur beruhigen. Zhang Fangli war im Dorf nicht als Drückeberger bekannt.

Doch selbst die härtesten Kritiker der Gemeindepolitik waren überrascht vom massiven Vorgehen der Polizei. Die Daoliner Beamten hatte Verstärkung aus der Provinzhauptstadt Changsha geordert. Plötzlich sahen sich die Bauern mit den modernen Techniken der chinesischen Protestbekämpfung konfrontiert: Entweder ungeübt oder böswillig, warfen die Polizisten ihre Tränengasbomben direkt in die Menge. Eine davon war tödlich.

Zurück blieb Ratlosigkeit. Die Dorfbewohner können es bis heute nicht fassen, daß den nach ihrer Auslegung berechtigten und legitimen Forderungen mit offener Gewalt begegnet wurde. Ähnlich erschreckt reagierten auch die höheren Parteibehörden: Auf Anordnung aus der Provinzhauptstadt Changsha erhielt die Witwe Zhangs binnen weniger Tage ein Schmerzensgeld von 60.000 Yuan (12.000 Mark). Das entsprach dem 30fachen seines Jahresgehalts und glich einem offenen Schuldgeständnis, wenngleich öffentlich weiter nach den Rädelsführern des Protests gefahndet wurde.

Offensichtlich hatten ein paar einflußreiche Provinzkader Angst bekommen, daß sie in Peking auffallen könnten. Dort läßt die Parteiführung keinen Tag vergehen, an dem sie nicht auf die Korruption in den unteren Rängen schimpft. Daolin ist bei weitem kein Einzelfall. Bis zum Zentralkomitee wurden in den letzten Monaten Schritte erörtert, die auf einen Austausch der kleinen, korrupten Parteifürsten auf dem Land zielen. Doch die Parteiführung steckt in der Klemme: Wenn sie offen gegen die lokalen Übeltäter vorgeht, könnte sich die Landbevölkerung bestätigt fühlen und ihr Protest sich verselbständigen. Ändert sie nichts an der Lage, droht die Situation in den Dörfern eines Tages zu explodieren.

Schnell bekam der lokale Bauernprotest in Hunan eine nationale Bedeutung: Er verwies exemplarisch auf die Machtlosigkeit der Parteiführung, ihre eigenen Versprechen vor Ort einzuhalten. Premierminister Zhu Rongji, der für seine Redlichkeit bekannte Pekinger Wirtschaftszar, sprach ausdrücklich von einer legitimen Kritik an der Regierung. „Die Beschwerden des Volkes, die Staat und Partei erreichen, müssen richtig beantwortet werden und sind entscheidend für die Entwicklung der Demokratie. Sie helfen der Regierung, bürokratische Fehler, Gesetzesüberschreitungen und Korruption aufzudecken“, sagte Zhu Anfang Februar. Wegen solch klarer Worte genießt der Regierungschef nicht zuletzt in seiner Heimatprovinz Hunan großes Ansehen, auch wenn er ihre Einhaltung nicht garantieren kann. „Ich habe nach dem Tod meines Mannes an Zhu geschrieben“, erklärt Zhangs Witwe feierlich.

Die Solidarisierung zwischen Bevölkerung und oberster Führung ist in China nicht neu. Sie entspringt dem konfuzianistischen Ideal des guten Kaisers, der im Volk Ansehen genießt und sich um das Wohl der Allgemeinheit bemüht. Auch über korrupte Beamte wird in China seit Menschengedenken geklagt. Gleichwohl stimmt die Kritik von Bauern und Parteiführung an den Privilegien der Funktionärsschichten nicht ohne aktuellen Anlaß überein: Unter Zhu drängt Peking auf die striktere Einhaltung marktwirtschaftlicher Spielregeln. Schon müssen viele Staatsbetriebe schließen, etliche Sparkassen und Banken sind vom Konkurs bedroht. Das alles rüttelt an den Machtverhältnissen in der Provinz. Den Bauern aber kann es recht sein. Sofern sie nicht auf die garantierten Getreidepreise der Regierung angewiesen sind, bieten sie ihre Ware auf dem freien Markt an. Je freier dabei der Markt ist und je geringer die Abgaben sind, desto besser geht es der Landbevölkerung, die von Investitionsmaßnahmen, die langfristig ihren Lebensstandard erhöhen könnten, bisher kaum profitiert.

So träumen die Menschen in Daolin davon, die Regierung auf ihrer Seite zu haben. „Zhu ist besser als Mao. Er ist nicht korrupt“, ehren die Bauern ihren Regierungschef. Schon vergleichen sie den Wirtschaftszaren mit ihrem alten Bauernhelden Lui Shaoqi. Doch ihr Ärger über das vorläufige Scheitern der Proteste wird dadurch kaum gemildert. Vor Ort ein wenig Trost spendet der Gang auf den Dorfberg.

Vorbei an einer runden Steinhütte, aus der ein graubärtiger Wasserbüffel lugt, führt der Pfad durch eine Mandarinenplantage hinauf zur Anhöhe, auf der Zhang Fangli begraben liegt. Einen vier mal vier Meter großen Grabstein, der einem Denkmal gleicht, hat die Familie ihrem Oberhaupt gesetzt, dazu ein Totenfest abgehalten, bei dem dreihundert Gäste geladen waren und hundert Polizisten Wache hielten. Am Grab warten Sohn und Schwiegertochter des Verstorbenen: Er frisch frisiert in Jeans und Nike-Turnschuhen, sie verpackt in leuchtende Goretex-Farben. Die beiden würden nicht einmal in Tokioter Kaufhaus auffallen. Traurig, aber nicht deprimiert berichtet das Paar von den zurückliegenden Ereignissen. Daß solche Landleute sich von korrupten Beamten nicht mehr alles bieten lassen, scheint für die Zukunft gesichert. Auch wenn der Wasserbüffel ihnen gehört.