Ein Fossil und doch am Puls der Zeit

Die parteiunabhängige Berliner Bildungsinstitution Urania feiert ihr 111jähriges Bestehen. Neben den Promi-Highlights und Vorlesungen verbreitet die Bildungsstätte praktische Lebenshilfe mit viel Understatement  ■ Von Christoph Rasch

Das „Schnapszahl“-Jubiläum ist fast nur am Sekt abzulesen: „Die Urania wird heute 111 Jahre alt“, vermerkt die biedere Kreidetafel an der Caféteriatheke, deshalb gibt es heute den Sekt für 2,50 Mark. Doch die vornehmlich älteren Herrschaften, die an diesem Nachmittag in die Schöneberger Urania gekommen sind, um einem Vortrag über Schloßgärten im Loiretal zu lauschen, schlürfen lieber Kaffee.

Ein stilles Jubiläum für die 1888 gegründete Berliner Institution, in der sich Wissenschaftler und Publizisten wie Eugen Drewermann, Jens Reich, Überlebenskünstler Rüdiger Nehberg oder Physiknobelpreisträger Rudolf Mößbauer die Klinke in die Hand geben. Ihrer Prominenten-Highlights ist sich die alterwürdige Bildunseinrichtung zwar bewußt, doch nicht nur Volksbildung mit Breitenwirkung ist hier Programm, sondern auch – Understatement. Kein Empfang, keine Sonderveranstaltung zum Jubiläum, nur der Sekt-Hinweis und verschämte Anmerkungen im Programmheft.

Von den großen Brüchen, die die Berliner Urania im Laufe ihrer Geschichte durchlebte, ist nur noch wenig zu spüren. Im Gegensatz zu ihrer Architektur – einem modernen, vollverspiegelten Kubus – präsentiert sich die Bildungsinstitution an der Kleiststraße seit ihrer Neugründung in den fünfziger Jahren als ein sympathisches Fossil, das die bildungsbürgerlichen Zeiten nicht nur überdauert, sondern ihre behäbigen Konventionen ins multimediale Schnell- Info-Zeitalter hinübergerettet hat. Vor Veranstaltungsbeginn erklingt seit Jahrzehnten der gleiche Gong, der Referent erklimmt das hölzerne Podium und fragt in den Saal: „Kann die Tontechnik etwas Hall aus dem Mikro nehmen?“

Doch das – 111 Seiten starke – Programmheft umfaßt mehr als Vorträge. In den Schaukästen im Foyer hängen die Filmfotos und Plakate des Urania-Kinos in Reih und Glied, Vitrinen und Stellwände präsentieren afrikanische Schnitzkunst und brandenburgischen Denkmalschutz. Ins leicht biedere Gesamtbild des plüschigen Sechziger-Jahre-Baus paßt ebenfalls der braune Briefkasten mit der Aufschrift „Wünsche und Anregungen“.

Gerlinde Hübner hat sich für ihren Urania-Besuch in Schale geworfen. Die Schöneberger Anwohnerin ist mit der Westberliner Urania – in Sichtweite – groß geworden. Letztere entstand da, wo das einstige jüdische Logenhaus aus den Kriegstrümmern ragte. Meistens kommt Frau Hübner erst abends, das Kino ist hier günstiger als anderswo. „Ich würde mir gern mehr Vorträge anhören“, sagt sie, „aber meistens fallen die in meine Arbeitszeiten.“

Daß die Expertenvorträge, wie Urania-Geschäftsführer Ulrich Bleyer sagt, „am Puls der Zeit“ liegen und ihre Zuhörer durchaus noch fesseln, berichtet auch Else Geisler. „Die Leute debattieren manchmal sogar noch weiter, wenn sie schon ihre Jacken abholen“, weiß die Urania-Garderobenfrau, Herrin über exakt 1.000 Garderobenhaken. „Viel mitreden kann ich dann kaum, ich komme ja nicht in die Vorträge“, sagt die 66jährige, während sie das kleine Trinkgeld zählt – Studenten und Rentner, die Hauptklientel, haben eben meist nicht viel. Doch das Publikum ist so bunt wie der Themenreigen. Für die beiden betagten Freundinnen aus Köpenick, 66 und 68 Jahre alt, ist der Bildungsausflug ins Stadtzentrum stets mit einem Einkaufsbummel am Ku'damm verbunden. Und das Ehepaar aus Alt-Glienicke nutzt seit drei Jahren die Dia-Reisevorträge – ein wichtiges Publikumsstandbein der Urania – für die eigenen Reisevorbereitungen.

Viele Bildungshungrige, vor allem junge, kommen allein zu den Veranstaltungen. „Das ist ja nicht wie Oper und Konzert“, sagt Student Roland Unger, „hier will ich mich konzentrieren – und kann das besser als an der Uni“, wo keine klassische Musik zu Vortragsbeginn die Zuhörenden den Alltagsstreß vergessen läßt und man sich nicht in weiche Klappsessel zurückfallen lassen kann.

Eingerahmt von zwei klassisch universitär anmutenden Vorträgen über die französischen Gärten und die Bedeutung griechischer Philosophie in der Gegenwart, füllt an diesem Tag ein Traditions- Highlight den aus dezenten Brauntönen komponierten Kepler-Saal: Der „erfahrbare Atem“ ist ein Renner.

Schon seit mehr als 20 Jahren ist Ilse Middendorf, die in Berlin ein eigenes Institut für Atemtechniken betreibt, Stammgast in der Urania. Ihr Stammpublikum besetzt die vorderen Reihen. Und schon bald strecken sich 300 Menschen in rhythmischer Atemgymnastik, lassen ihre Zungen und Hüften kreisen, ein kollektives Ein- und Ausatmen.

Während es zu Gründungszeiten galt, wissenschaftliche Fortschritte und Entdeckungen einem Laienpublikum verständlich zu machen, will eine moderne Urania auch Anregungen zur Lebenshilfe bieten – zumindest ansatzweise. Doch den meisten Zuhörer, die an diesem Tag noch mehr wissen wollen, werden vertröstet. „Für weitere Fragen“, verweist Frau Middendorf im Anschluß an die einstündige Veranstaltung, „suchen Sie bitte meine Praxis auf.“