Keine Partei nach Fischers Vorstellung

Der Grünen-Parteitag in Erfurt ließ Joschka Fischer mit der Forderung nach einer Reform der Führungsstruktur auflaufen. Doch niemand, auch Fischer nicht, bot sich an, die Partei aus der Misere zu führen  ■ Aus Erfurt Dieter Rulff

Manchmal müssen gar die Gesetze der Physik außer Kraft gesetzt werden, um einen Ausweg aus der grünen Misere aufzuzeigen. Einem Trabanten gleich, so skizziert Matthias Berninger die Stellung Joschka Fischers zu seiner Partei. Zwischen dem kleinen und dem großen der Kreise, die der junge Bundestagsabgeordnete zum besseren Verstehen des Journalisten auf den Rand einer Zeitung malt, besteht eine Anziehungskraft, mittels derer Mond Fischer die Erde Grüne in die richtige Bahn lenke. Die Gefahr für seine Partei, auf die Berninger so anschaulich hinweisen will, droht, wenn sich der Mond zu weit von der Erde entfernt.

Berninger sah in den letzten Tagen vor dem Parteitag der Grünen diese Gefahr gegeben. Die Erde versank im Chaos der der gegenseitigen Schuldzuweisungen, und der Außenminister schwebte in den Wolken exorbitanter Popularititätswerte. Per Interview hatte er die Basis wissen lassen, daß er sich als Ausweg aus der Krise eine Strukturreform wünsche. Eine Person an der Spitze, darunter ein Präsidium – das sei es.

Doch damit war die Verunsicherung eher noch vergrößert worden, sah manche doch nun auch noch die Quote in Frage gestellt. Die beiden Parteisprecherinnen Radcke und Röstel argwöhnten verdeckte Kritik an ihrer Arbeit. Und überhaupt, waren nicht erst auf dem letzten Parteitag im Dezember mit dem Parteirat neue Strukturen geschaffen worden? Der Parteitag, der sich am Wochenende in Erfurt traf, um für die Europawahl das Programm zu beschließen und die Kandidaten zu nominieren, mußte eine Klärung bringen. Deshalb wurde kurzfristig eine mehrstündige Debatte über die Partei selbst anberaumt.

Der Zustand der Partei hat den Namen Hessen.

Der Zustand der Partei hat einen Namen: „Hessen“. Die dortige Wahl vor einem Monat komplettierte eine Serie von Wahlniederlagen. Vor allem das Fernbleiben und Weglaufen der Jungwähler schmerzte die Grünen. Es bestehe die Gefahr, meint die frühere Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle nüchtern, daß am Ende dieses Jahres, in dem das Europaparlament, mehrere Landtage und Kommunalparlamente gewählt werden, das hessische Wahlergebnis noch eines der besten wäre.

Um das zu vermeiden, sollte von dem Parteitag ein Signal des Aufbruchs ausgehen. Doch Aufbruch wohin? Rühle zieht den Vergleich zur Lage im Jahr 1990, als die Grünen aus dem Bundestag flogen. Der Bundestagsabgeordnete Helmut Lippelt, von Anbeginn in Spitzenfunktionen bei den Grünen tätig, findet das Problem gar schlimmer als damals – weil es nicht so eindeutig lösbar sei wie seinerzeit der Streit zwischen Fundis und Realos.

Lippelts Einschätzung wird durch den Verlauf des Parteitages in Erfurt bestätigt. So einhellig von allen eine Veränderung eingeklagt wird, so geschlossen ist, links wie rechts, der Widerstand gegen eine Strukturreform. Lippelt wähnt die Prinzipien einer partizipatorischen Demokratie in Gefahr. Die Fraktionsvorsitzende Kerstin Müller sieht in einer vielbeklatschten Rede die Grünen „auf der Straße der Verlierer“, „wenn wir möglichst viel Macht auf möglichst wenig Männer verteilen“. Sie erkennt in der „verlogenen“ Strukturdebatte vor allem eines: „Das sind wieder einmal nur Machtkämpfe.“

Dem widerspricht keiner. Noch nicht einmal bissig fällt am Rande die Bemerkung, daß sie ja auch um ihre Position kämpfe. Auch die Parteisprecherin Gunda Röstel hält eine kämpferische Rede. Sie macht aus ihrer Abneigung gegen eine Strukturdebatte keinen Hehl und pariert den darin verborgenen Vorwurf gegen sie und ihre Kollegin Antje Radcke. An der Performance von Rot-Grün habe die Partei den geringsten Anteil, „wir haben den Ministern und der Fraktion den Rücken freigehalten“.

Die beiden Vorstandsfrauen bekommen Rückenstärkung von Wolfgang Ullmann. Der Bürgerrechtler, der aus Altersgründen nicht mehr für das Europaparlament kandidiert, fragt den Parteitag: Ob denn „irgend jemand im Saal glaubt, daß wir die Hessenwahl verloren haben, weil wir den Mibrauch der Verquickung von Amt und Mandat mitmachen, weil wir zwei Vorstandssprecherinnen haben?“ Niemand im Saal, das signalisiert der Applaus, will das glauben.

Nach Ullmanns Rede, so erklärt Fischer später in der Wandelhalle, sei ihm deutlich geworden, wie schwierig es für ihn werde, sein Anliegen vorzubringen. Er mag sein Redekonzept angesichts der Aussichtslosigkeit seines Vorhabens geändert haben. Was er dem Parteitag sagt, klingt wie eine Relativierung seiner per Interview verbreiteten Forderungen: Er sei gerne bereit, jede Strukturdebatte wegzuschließen, „wenn wir lernen zu regieren“. Und Regieren heiße, Visionen und Machbarkeit in Einklang zu bringen.

Fischer relativiert Kritik an den Parteistrukturen

Zwar geht Fischer mit dem Parteilinken Ludger Volmer hart ins Gericht, der die Perspektiven der Grünen bei 5 bis 7 Prozent festgeschrieben hat; zwar warnt Fischer die Partei davor, den Kopf in den Sand zu stecken, und fordert Kampagnenfähigkeit angesichts der Kampagnen der Konservativen. Doch, so resümiert Fischer, wenn ein Vorsitzender es schaffe, diese herzustellen, solle es einer machen, wenn zwei dazu erforderlich seien, dann halt zwei, und wenn's ein Elferrat sein solle, dann ein Elferrat.

Danach schrumpfte die Strukturreform zu einem lax formulierten Arbeitsauftrag an den Parteirat. Umweltminister Jürgen Trittin ging in seiner Rede auf das Thema schon gar nicht mehr ein. Trotzdem zeigte sich Fischer hernach gewiß, daß das Projekt auf den Weg gebracht sei. Er hielt an dem dafür angepeilten Zeitrahmen von eineinhalb Jahren fest. Es sei, so interpretierte er die verhaltene Resonanz auf seinen Vorstoß, für viele halt schwierig, solche Veränderung zu akzeptieren.

Berninger will sich einer solchen grünen Gesetzmäßigkeit nicht beugen. Er setzt auf Einsicht, darauf, daß er selbst demnächst den hessischen Landesvorsitz übernehmen wird – und damit den Einstieg in den Ausstieg aus dem Prinzip der Trennung von Amt und Mandat schafft. Und er setzt darauf daß „der Außenminister begriffen hat, daß er jetzt kämpfen muß“, wenn er später nicht den Vorwurf einheimsen wolle, zu spät gekämpft zu haben.

Nach Fischers Rede wird deren Stellenwert von seinem Umfeld vor allem mit dessen Absage an den Burgfrieden der Parteiflügel begründet. Fischer hatte in seiner Rede die Doppelspitze der Partei weniger als Ausdruck der Frauenquote als vielmehr der Quotierung der Flügel charaktierisiert. Mit dem Burgfrieden zwischen Linken und Realos habe man es geschafft, die Partei zu stabilisieren. Doch diese Quote der Flügel sei „die Hauptursache für den Immobilismus der Grünen“ geworden.

Wie wenig Bedeutung das Links- Rechts-Schema hat zeigte sich bei der Kandidatenbestimmung zur Europawahl. Dort wurde kaum noch nach den früher sop wichtigen Strömungen Realo oder Fundi gewählt - die Parteitagsdelegierten lassen sich nach diesem Muster kaum noch sortieren.

Sibyllinischer Kosovo-Antrag

Anlaß zur inhaltlichen Kontroverse war auf dem Parteitag durchaus gegeben, doch auch damit tun sich die Grünen, tut sich Fischer zur Zeit schwer. Der Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele hatte zusammen mit einer Reihe Delegierter einen Antrag eingebracht, in dem unter anderem gefordert wurde, daß ein Friedensabkommen für den Kosovo „durch friedenserhaltende Einheiten der zuständigen internationalen Organisationen OSZE bzw. UNO mandatiert und nach Kapitel VI der UN-Charta“ überwacht werden solle. Eine deutsche Beteiligung an Kampfeinsätzen wurde abgelehnt. Der Antrag widersprach in mehreren Punkten dem Stand der Verhandlungen von Rambouillet, und noch am Freitag abend war bei einem Treffen des realpolitischen Flügels beschlossen worden, die Kontroverse um dieses grüne Dauerthema offensiv auszutragen.

Doch im Laufe des Samstages wurde in einem sechsstündigen Prozeß informeller Absprachen und Beratungen durch die vermittelnde Abgeordnete Angelika Beer eine Kompromißformulierung gefunden. Sie ermöglichte es dem Außenminister, seine Position unbeschadet weiter zu vertreten – und beließ Ströbele in der Gewißheit, daß die programmatisch festgelegte Ablehnung von Kampfeinsätzen nach wie vor Gültigkeit habe. Lediglich eine kleine Gruppe beharrte noch auf dem ursprünglichen Antrag und wurde niedergestimmt.

Für Helmut Lippelt war dieser Antrag typisch für das der Parteimisere zugrunde liegende Problem, „die Welt als Wille und Vorstellung der Grünen zu betrachten“. Deshalb war er vehement dafür, Ströbeles Antrag „offensiv wegzufegen“. Das scheiterte nach Lippelts Ansicht, unter anderem weil Fischer „die Ein-bis-fünf-Prozent-Möglichkeit fürchtet, daß die Debatte entgleist“. Und so bewährte sich der Burgfrieden vielleicht ein letztes Mal, während Fischer am Rednerpult von ihm Abschied nahm.

Fischer dementierte, selbst das Amt eines Parteivorsitzenden anzustreben. Doch betonte er zugleich mehrfach am Rande des Parteitages seinen Unwillen, die Misere der Partei ein weiteres Mal durch einen kräftezehrenden Wahlkampf zu kompensieren. Fischer wird mit der Möglichkeit rechnen, daß ihn die Partei rufen wird, wenn sie durch die kommenden Wahlergebnisse in die „Situation der nachhaltigen Niederlage“ schliddert.

Dann, das weiß Außenminister Joschka Fischer am besten, wird sich die Frage der Doppelspitze mit einer ganz anderen Dringlichkeit stellen – auch für ihn.